Dantine, Olivier EIN JAHR STUDIUM IN ISRAEL
22/02/00 Praxis
Im Studienjahr 1996/96 war ich Teilnehmer eines Studienprogrammes, das seit mittlerweile 20 Jahren Christen, vornehmlich Theologiestudenten, ermöglicht, ein Jahr an der Hebräischen Universität in Jerusalem zu studieren. Neben dem Erlernen der hebräischen Sprache sind die Ziele vor allem das Studium der rabbinischen Literatur in Talmud und Midrasch. Daneben werden Kurse zur israelisch-palästinensischen Gesellschaft angeboten. In dem folgenden Bericht habe ich versucht, meine vielfältigen persönlichen Erfahrungen des Studienjahres zusammenzufassen.
ALS CHRIST IN ISRAEL LEBEN
Auch wenn ich als Evangelischer in Österreich ebenfalls in einer Minderheitensituation aufgewachsen bin, muß ich in diesem Zusammenhang doch von einer völlig neuen Situation sprechen, mit der ich konfrontiert wurde. Mehrere Punkte will ich nennen: Schon allein der Festkalender und der Sabbat als wöchentlicher Feiertag machten mir meine Fremdheit in Israel deutlich. Wenn die Mehrheit der Menschen feiert, große Familienfeste veranstaltet, in die Synagoge geht, alles ruht, hat man im Grunde keine Beziehung zu diesen Festen. Andererseits spiegelten sich die christlichen Feste in der jüdischen Umgebung verständlicherweise nicht wider, was auch sehr ungewohnt war. Dies ist eine Fremdheit, die ich aber als „bereichernde Fremdheit" bezeichnen würde. Denn bot das erste die Möglichkeit, ein wesentliches Element des jüdischen Glaubens kennenzulernen, wenn man etwa zu den Festgottesdiensten in die Synagoge oder am Seder-Abend zu Pessach in eine Familie eingeladen wird, so gab das letztere einen neuen, vielleicht auch tieferen Einblick auf die christlichen Feste. Es war notwendig, in dieser fremden Umgebung für sich in der kleinen christlichen Gemeinschaft einen Zugang zu den christlichen Festen zu finden.
Ein weiterer Punkt war, daß ich auf viel Interesse für unser Christsein gestoßen bin. Jedoch die Tatsache, daß man eben kaum Vorwissen voraussetzen konnte, war auch ungewohnt. So erlebte ich die Schwierigkeit, wichtige Grundlagen, die ich als selbstverständlich ansah, erklären zu müssen. Unvergessen wird mir ein Treffen der Israel Interfaith Association bleiben, bei dem die christlichen TeilnehmerInnen sich über Rechtfertigung, Abendmahlsverständnis und ähnliches stritten, was unter den jüdischen und muslimischen TeilnehmerInnen, die nur bruchstückhaft Kenntnisse über die Unterschiede zwischen griechisch-othodoxen, katholischen und evangelischen ChristenInnen haben, großes Unverständnis und Verwunderung auslöste. Aber auch hier gilt: Den Verlust der Selbstverständlichkeit und den daraus erwachsenden Zugang, sich mit den scheinbar einfachsten Inhalten der christlichen Theologie zu beschäftigen, kann ich nur positiv für die Entwicklung einer theologischen Persönlichkeit bewerten.
Ein nicht unwesentliches Problem, das sich ergibt, wenn ein Österreicher oder Deutscher in Israel lebt, ist das Verhältnis zur jüngsten Geschichte. Ich wurde in diesem Jahr, konzentriert um den Jom HaShoah, den Shoah-Gedenktag, mit vielen Arten des Gedenkens konfrontiert. Diesen Tag nutzte ich auch für mein Gedenken. Eine durchaus schmerzliche aber sehr wichtige Erfahrung war, daß ich mit meinem Gedenken allein war, im Gedenken der Juden fand ich nirgendwo einen Platz. Die Art des Gedenkens und die verwendeten Begriffe waren mir in diesem Zusammenhang sehr fremd, und das mußte wohl so sein. Es ist das Gedenken der Opfer durch deren eigene Nachfahren und von daher etwas, was nicht mit Außenstehenden geteilt werden kann und auch nicht geteilt wird.
ALS AUSLÄNDER IN EINER KRISENREGION LEBEN
Das Leben in einem im Vergleich zu Österreich sehr unsicheren Land mußte ich auch erst lernen. Die Angst, die man nicht selten in ganz alltäglichen Situationen hat, spielt im Leben in Jerusalem eine nicht unwesentliche Rolle. So bekam ich auch die Angst der Bevölkerung am eigenen Leib mit und lernte sie zu verstehen. Wie etwa beim Busfahren, wenn man sich die Fahrgäste genau ansieht, ob nicht vielleicht eine verdächtige Person im Bus sitzt. Doch diese Angst wird verdrängt. Ich lernte, damit zu leben, nicht ständig daran zu denken. Dennoch kam sie immer wieder zum Vorschein. Es ist diese Angst, die den Friedensprozeß so schwierig macht.
Andererseits lernte ich auch Palästinenser kennen, die von sehr häufigen Behinderungen des alltäglichen Lebens durch die jüdisch-israelische Seite berichteten, sei es durch Willkür einzelner Verantwortlicher oder durch die offizielle israelische Politik. Die Frustration infolge dieser Schikanen, infolge des stockenden Friedensprozesses, die sich ständig in gewalttätigen Unruhen zu entladen drohen, war deutlich in den Gesprächen zu hören.
Als ausländischer Student, der nur ein Jahr in Israel lebte, zur Not jederzeit zurückfliegen konnte, die Konsequenzen jeglicher politischer Entscheidungen also nicht zu tragen genötigt war, kam ich in eine etwas schwierige Situation. Wenn es zu Diskussionen über die politische Situation kam, hielt ich mich zurück, hütete mich vor wertenden Aussagen. Es blieb beim Zuhören, beim Versuch, die jeweilige Position zu verstehen. Sehr häufig gelang dieses Verstehen nicht. Ich lernte aber zumindest, daß es einfache Lösungen, einfache Schwarz-Weiß-Malerei nicht gibt, lernte die Komplexität der Situation kennen, die Mischung aus geschichtlich gewachsenen Konflikten und persönlichen Angst- und Unterdrückungserfahrungen, die einen Versöhnungsprozeß so schwierig machen.
RABBINISCHE LITERATUR ALS CHRISTLICHER THEOLOGE LESEN
„Wende und wühle in ihr, denn in ihr ist alles“ (Pirque Avot 5,22). Dieser Satz über den Umgang mit der Tora und die Konsequenzen dieser Haltung machen einen Großteil der Faszination der rabbinischen Literatur aus und bergen gleichzeitig etwas Befremdliches in sich. Es wächst daraus eine fast unglaubliche Freiheit, mit den Texten umzugehen, um damit die Texte lebendig zu halten. Von vornherein wird nicht um die historische Bedeutung der Texte diskutiert, sondern um die Bedeutung für den Leser der jeweiligen Zeit. Und so gewinnt die Tora wieder Bedeutung als lebendiges Wort Gottes. Je mehr ich die rabbinische Auslegung kennenlernte, desto geringer wurde für mich die Bedeutung der in der Theologie (noch) hoch gepriesenen historisch-kritischen Methode. Diese Methode bleibt nicht selten beim Versuch stehen, die Intention des Autors/der Autoren und die Bedeutung des Textes in seiner Entstehungszeit auszugraben. Nicht selten wird außerdem noch der Objektivitätsanspruch gestellt. Insgesamt degradiert sie oft damit die Bibel zu einem historischen Werk, das für den Glaubenden heute kaum noch Bedeutung hat.
Die Kreativität der rabbinischen Auslegung dagegen kann hier Anstöße auch für die christliche Bibelauslegung geben. Diese Kreativität jedoch, ich deutete dies schon an, hat auch etwas Befremdliches, je Gefährliches an sich, nämlich wenn diese Freiheit zur Willkür wird: Auch Yigal Amir fand in der Tora Rechtfertigung für die Ermordung Rabins. Wenn alles in der Auslegung erlaubt ist, stellt sich automatisch die Frage nach der Grenze einer solchen freien und kreativen Auslegung. Daß sich das oben genannte Beispiel weit jenseits dieser Grenze befindet, steht außer Frage. Aber wer definiert die Grenzen und wie? Ist es ausreichend, den Konsens der Rabbiner innerhalb der rabbinischen Tradition als Korrektiv anzusehen? Vielleicht bin ich zu sehr theologisch-exegetisch sozialisiert, als daß ich mich völlig von der historisch-kritischen Methode trennen kann, und sei es auch nur als Korrektiv für eine lebendigere Auslegung.
Daneben kam noch einiges an Unbehagen gegenüber dem Inhalt mancher Texte dazu: Bei vielen Texten wurde die Distanz des Judentums von der christlichen Theologie sehr deutlich. Vor allem bei polemischen Texten über die Erwählung Israels und die Verwerfung aller anderen Völker wurde mir der Graben sehr deutlich. Aber auch in nicht polemischen Texten wurde dies deutlich. Solche Texte können nicht als dogmatisch im christlichen Sinn verstanden werden und erregen innerhalb des Judentums sicherlich auch Widerspruch. Aber sie sind doch heilsam und bewahren vor einem Romantisieren des Judentums, einem unreflektierten „Philosemitismus“ christlicherseits, der allzu leicht in eine christliche Vereinnahmung des Judentums mündet. Die Grenze ist klar zu sehen: Das Andere, das Fremde als Anderes zu akzeptieren und die Spannung auszuhalten, die aus diesem Fremdsein einerseits und dem Wunsch, sich der jüdischen Wurzeln des Christentums bewußt zu werden und auf die jüdische Stimme zu hören, andererseits entsteht.
EINE THEOLOGIE DES ISRAEL-GEDENKENS
„Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“, meint Dietrich Bonhoeffer. Dieses Zitat, freilich aus dem Zusammenhang gerissen, macht etwas deutlich, was ich mir unter dem vorstellen kann, was ich von diesem Jahr in mein weiteres Studium und in meine zukünftige Tätigkeit einbringen kann. Je länger ich studiere, desto deutlicher wird mir, daß die Theologie aus der Beachtung der eigenen Wurzeln, aus Bekenntnis zur eigenen Schuldverstrickung heraus zur Würdigung des Judentums, zur Wachsamkeit gegen jeden Antijudaismus in der eigenen Wissenschaft geradezu verpflichtet ist. Das Studium in Israel ist vielleicht solch eine Würdigung, vor allem, weil man die Möglichkeit hat, die Ebene des reinen Beobachtens von außen ein Stück weit zu verlassen, und dadurch, daß man mit Juden und Jüdinnen lernt, die diese Texte als ihre Tradition anerkennen, deren Bedeutung für die Juden und Jüdinnen von heute zu begreifen. Zu dieser Würdigung muß aber auch das Weitergeben des Gelernten gehören: ChristenInnen hier deutlich zu machen,
daß das Neue Testament nicht die einzige Fortführung des sogenannten „Alten Testamentes“ ist; daß es daneben eine sehr reiche jüdische Tradition gibt, die in machen Punkten der neutestamentlichen Überlieferung sehr ähnlich, in anderen wiederum sehr verschieden ist; daß das Judentum wie das Christentum eine sehr lebendige Gemeinschaft ist (wie oft wird über das Judentum und seine Feste in der Vergangenheit gesprochen!); daß bestimmte theologische Begriffe und Denkmuster verworfen werden müssen, weil sie diese eigenständige und lebendige Existenz des Judentums negieren; und schließlich, daß wir an einer Theologie arbeiten müssen, die frei von dieser antijüdischen Überheblichkeit zu einem neuen christlichen Selbstbewußtsein führt.
Informationen zum Studienprogramm erhalten Sie bei: „Studium in Israel“, Pfarrerin Katya Kriener, clo Studienstelle Christen und Juden der Evangelischen Kirche im Rheinland, Hans-Bockler-Straße 7, D-40476 Düsseldorf; Telefon 0049-211-4562/387, Fax 0049-211-4562/434, Studienstelle@cww.de — http://www.uni-leipzig.de/~judaica/studisr
Auch wenn ich als Evangelischer in Österreich ebenfalls in einer Minderheitensituation aufgewachsen bin, muß ich in diesem Zusammenhang doch von einer völlig neuen Situation sprechen, mit der ich konfrontiert wurde. Mehrere Punkte will ich nennen: Schon allein der Festkalender und der Sabbat als wöchentlicher Feiertag machten mir meine Fremdheit in Israel deutlich. Wenn die Mehrheit der Menschen feiert, große Familienfeste veranstaltet, in die Synagoge geht, alles ruht, hat man im Grunde keine Beziehung zu diesen Festen. Andererseits spiegelten sich die christlichen Feste in der jüdischen Umgebung verständlicherweise nicht wider, was auch sehr ungewohnt war. Dies ist eine Fremdheit, die ich aber als „bereichernde Fremdheit" bezeichnen würde. Denn bot das erste die Möglichkeit, ein wesentliches Element des jüdischen Glaubens kennenzulernen, wenn man etwa zu den Festgottesdiensten in die Synagoge oder am Seder-Abend zu Pessach in eine Familie eingeladen wird, so gab das letztere einen neuen, vielleicht auch tieferen Einblick auf die christlichen Feste. Es war notwendig, in dieser fremden Umgebung für sich in der kleinen christlichen Gemeinschaft einen Zugang zu den christlichen Festen zu finden.
Ein weiterer Punkt war, daß ich auf viel Interesse für unser Christsein gestoßen bin. Jedoch die Tatsache, daß man eben kaum Vorwissen voraussetzen konnte, war auch ungewohnt. So erlebte ich die Schwierigkeit, wichtige Grundlagen, die ich als selbstverständlich ansah, erklären zu müssen. Unvergessen wird mir ein Treffen der Israel Interfaith Association bleiben, bei dem die christlichen TeilnehmerInnen sich über Rechtfertigung, Abendmahlsverständnis und ähnliches stritten, was unter den jüdischen und muslimischen TeilnehmerInnen, die nur bruchstückhaft Kenntnisse über die Unterschiede zwischen griechisch-othodoxen, katholischen und evangelischen ChristenInnen haben, großes Unverständnis und Verwunderung auslöste. Aber auch hier gilt: Den Verlust der Selbstverständlichkeit und den daraus erwachsenden Zugang, sich mit den scheinbar einfachsten Inhalten der christlichen Theologie zu beschäftigen, kann ich nur positiv für die Entwicklung einer theologischen Persönlichkeit bewerten.
Ein nicht unwesentliches Problem, das sich ergibt, wenn ein Österreicher oder Deutscher in Israel lebt, ist das Verhältnis zur jüngsten Geschichte. Ich wurde in diesem Jahr, konzentriert um den Jom HaShoah, den Shoah-Gedenktag, mit vielen Arten des Gedenkens konfrontiert. Diesen Tag nutzte ich auch für mein Gedenken. Eine durchaus schmerzliche aber sehr wichtige Erfahrung war, daß ich mit meinem Gedenken allein war, im Gedenken der Juden fand ich nirgendwo einen Platz. Die Art des Gedenkens und die verwendeten Begriffe waren mir in diesem Zusammenhang sehr fremd, und das mußte wohl so sein. Es ist das Gedenken der Opfer durch deren eigene Nachfahren und von daher etwas, was nicht mit Außenstehenden geteilt werden kann und auch nicht geteilt wird.
ALS AUSLÄNDER IN EINER KRISENREGION LEBEN
Das Leben in einem im Vergleich zu Österreich sehr unsicheren Land mußte ich auch erst lernen. Die Angst, die man nicht selten in ganz alltäglichen Situationen hat, spielt im Leben in Jerusalem eine nicht unwesentliche Rolle. So bekam ich auch die Angst der Bevölkerung am eigenen Leib mit und lernte sie zu verstehen. Wie etwa beim Busfahren, wenn man sich die Fahrgäste genau ansieht, ob nicht vielleicht eine verdächtige Person im Bus sitzt. Doch diese Angst wird verdrängt. Ich lernte, damit zu leben, nicht ständig daran zu denken. Dennoch kam sie immer wieder zum Vorschein. Es ist diese Angst, die den Friedensprozeß so schwierig macht.
Andererseits lernte ich auch Palästinenser kennen, die von sehr häufigen Behinderungen des alltäglichen Lebens durch die jüdisch-israelische Seite berichteten, sei es durch Willkür einzelner Verantwortlicher oder durch die offizielle israelische Politik. Die Frustration infolge dieser Schikanen, infolge des stockenden Friedensprozesses, die sich ständig in gewalttätigen Unruhen zu entladen drohen, war deutlich in den Gesprächen zu hören.
Als ausländischer Student, der nur ein Jahr in Israel lebte, zur Not jederzeit zurückfliegen konnte, die Konsequenzen jeglicher politischer Entscheidungen also nicht zu tragen genötigt war, kam ich in eine etwas schwierige Situation. Wenn es zu Diskussionen über die politische Situation kam, hielt ich mich zurück, hütete mich vor wertenden Aussagen. Es blieb beim Zuhören, beim Versuch, die jeweilige Position zu verstehen. Sehr häufig gelang dieses Verstehen nicht. Ich lernte aber zumindest, daß es einfache Lösungen, einfache Schwarz-Weiß-Malerei nicht gibt, lernte die Komplexität der Situation kennen, die Mischung aus geschichtlich gewachsenen Konflikten und persönlichen Angst- und Unterdrückungserfahrungen, die einen Versöhnungsprozeß so schwierig machen.
RABBINISCHE LITERATUR ALS CHRISTLICHER THEOLOGE LESEN
„Wende und wühle in ihr, denn in ihr ist alles“ (Pirque Avot 5,22). Dieser Satz über den Umgang mit der Tora und die Konsequenzen dieser Haltung machen einen Großteil der Faszination der rabbinischen Literatur aus und bergen gleichzeitig etwas Befremdliches in sich. Es wächst daraus eine fast unglaubliche Freiheit, mit den Texten umzugehen, um damit die Texte lebendig zu halten. Von vornherein wird nicht um die historische Bedeutung der Texte diskutiert, sondern um die Bedeutung für den Leser der jeweiligen Zeit. Und so gewinnt die Tora wieder Bedeutung als lebendiges Wort Gottes. Je mehr ich die rabbinische Auslegung kennenlernte, desto geringer wurde für mich die Bedeutung der in der Theologie (noch) hoch gepriesenen historisch-kritischen Methode. Diese Methode bleibt nicht selten beim Versuch stehen, die Intention des Autors/der Autoren und die Bedeutung des Textes in seiner Entstehungszeit auszugraben. Nicht selten wird außerdem noch der Objektivitätsanspruch gestellt. Insgesamt degradiert sie oft damit die Bibel zu einem historischen Werk, das für den Glaubenden heute kaum noch Bedeutung hat.
Die Kreativität der rabbinischen Auslegung dagegen kann hier Anstöße auch für die christliche Bibelauslegung geben. Diese Kreativität jedoch, ich deutete dies schon an, hat auch etwas Befremdliches, je Gefährliches an sich, nämlich wenn diese Freiheit zur Willkür wird: Auch Yigal Amir fand in der Tora Rechtfertigung für die Ermordung Rabins. Wenn alles in der Auslegung erlaubt ist, stellt sich automatisch die Frage nach der Grenze einer solchen freien und kreativen Auslegung. Daß sich das oben genannte Beispiel weit jenseits dieser Grenze befindet, steht außer Frage. Aber wer definiert die Grenzen und wie? Ist es ausreichend, den Konsens der Rabbiner innerhalb der rabbinischen Tradition als Korrektiv anzusehen? Vielleicht bin ich zu sehr theologisch-exegetisch sozialisiert, als daß ich mich völlig von der historisch-kritischen Methode trennen kann, und sei es auch nur als Korrektiv für eine lebendigere Auslegung.
Daneben kam noch einiges an Unbehagen gegenüber dem Inhalt mancher Texte dazu: Bei vielen Texten wurde die Distanz des Judentums von der christlichen Theologie sehr deutlich. Vor allem bei polemischen Texten über die Erwählung Israels und die Verwerfung aller anderen Völker wurde mir der Graben sehr deutlich. Aber auch in nicht polemischen Texten wurde dies deutlich. Solche Texte können nicht als dogmatisch im christlichen Sinn verstanden werden und erregen innerhalb des Judentums sicherlich auch Widerspruch. Aber sie sind doch heilsam und bewahren vor einem Romantisieren des Judentums, einem unreflektierten „Philosemitismus“ christlicherseits, der allzu leicht in eine christliche Vereinnahmung des Judentums mündet. Die Grenze ist klar zu sehen: Das Andere, das Fremde als Anderes zu akzeptieren und die Spannung auszuhalten, die aus diesem Fremdsein einerseits und dem Wunsch, sich der jüdischen Wurzeln des Christentums bewußt zu werden und auf die jüdische Stimme zu hören, andererseits entsteht.
EINE THEOLOGIE DES ISRAEL-GEDENKENS
„Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“, meint Dietrich Bonhoeffer. Dieses Zitat, freilich aus dem Zusammenhang gerissen, macht etwas deutlich, was ich mir unter dem vorstellen kann, was ich von diesem Jahr in mein weiteres Studium und in meine zukünftige Tätigkeit einbringen kann. Je länger ich studiere, desto deutlicher wird mir, daß die Theologie aus der Beachtung der eigenen Wurzeln, aus Bekenntnis zur eigenen Schuldverstrickung heraus zur Würdigung des Judentums, zur Wachsamkeit gegen jeden Antijudaismus in der eigenen Wissenschaft geradezu verpflichtet ist. Das Studium in Israel ist vielleicht solch eine Würdigung, vor allem, weil man die Möglichkeit hat, die Ebene des reinen Beobachtens von außen ein Stück weit zu verlassen, und dadurch, daß man mit Juden und Jüdinnen lernt, die diese Texte als ihre Tradition anerkennen, deren Bedeutung für die Juden und Jüdinnen von heute zu begreifen. Zu dieser Würdigung muß aber auch das Weitergeben des Gelernten gehören: ChristenInnen hier deutlich zu machen,
daß das Neue Testament nicht die einzige Fortführung des sogenannten „Alten Testamentes“ ist; daß es daneben eine sehr reiche jüdische Tradition gibt, die in machen Punkten der neutestamentlichen Überlieferung sehr ähnlich, in anderen wiederum sehr verschieden ist; daß das Judentum wie das Christentum eine sehr lebendige Gemeinschaft ist (wie oft wird über das Judentum und seine Feste in der Vergangenheit gesprochen!); daß bestimmte theologische Begriffe und Denkmuster verworfen werden müssen, weil sie diese eigenständige und lebendige Existenz des Judentums negieren; und schließlich, daß wir an einer Theologie arbeiten müssen, die frei von dieser antijüdischen Überheblichkeit zu einem neuen christlichen Selbstbewußtsein führt.
Informationen zum Studienprogramm erhalten Sie bei: „Studium in Israel“, Pfarrerin Katya Kriener, clo Studienstelle Christen und Juden der Evangelischen Kirche im Rheinland, Hans-Bockler-Straße 7, D-40476 Düsseldorf; Telefon 0049-211-4562/387, Fax 0049-211-4562/434, Studienstelle@cww.de — http://www.uni-leipzig.de/~judaica/studisr