EINE UMARMUNG, DIE DIE UMARMTEN SCHMERZT - EIN KOMMENTAR ZUR PODIUMSDISKUSSION DER JUBILÄUMSREIHE

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Schon im Theologiestudium legte sich mir die Ansicht nahe, dass der Ewige christlichen und jüdischen Gläubigen ganz verschiedene Zores macht. Wie sehr Traditionen, Kultur und Geschichte uns prägen und uns mit einem ganz anderen Fokus und Verständnis an die Dinge herangehen lassen, wurde auch in der letzten Podiumsdiskussion zur Sicht der jüdischen Gemeinden auf den christlich-jüdischen Dialog sichtbar. Während der Generalsekretär der IKG – in unseren jüdischen ahierarchischen Strukturen auch nur eine jüdische Stimme unter vielen, wenn auch eine belesene, erfahrene und mit Kompetenzen und Vertrauen ausgestattete – meinte, ein theologischer Dialog sei nicht sinnvoll zu führen, spielte der Rückbezug auf das theologische Fundament bei fast jeder der Wortmeldungen von christlicher Seite eine zentrale Rolle.
Dass alle Redner_innen, die bis jetzt in der Jubiläumsreihe zu Wort gekommen sind, von Anfang an auf die Geschichte der christlichen Missionierung, Diffamierung und Verfolgung Bezug genommen haben, zeigt, dass sich die Beziehungen zwischen jüdischen und christlichen Menschen noch immer nicht davon erholt haben. Wir Jüdinnen und Juden haben uns noch nicht davon erholt – wie auch, nur 70 Jahre nach dem Höhepunkt der antisemitischen Vernichtungsbestrebungen? Als ich im jüdischen Religionsunterricht war, sollten wir uns einmal an einem Beispiel versuchen: „Am Schabbes entführt ein dicker alter Mönch ein jüdisches Mädchen, um es zum Christentum zu konvertieren. Er wird sie nicht umbringen. Dürfen wir, obwohl Schabbes ist, eine Rettungsmission losschicken?“ Der Lehrer, der dieses Beispiel gebracht hat, weiß, dass ich jüdisch und Teil der Gemeinde bin. Dennoch: Seit ich im Koordinierungsausschuss arbeite, scherzt er jedes Mal, wenn er mich sieht, dass ich versuche, ihn für die christliche Seite zu gewinnen.
Demgegenüber sehe ich eine ungemeine Bereitschaft von christlicher Seite, ganz schnell ganz eng mit uns zu werden. Nicht nur eine Person habe ich sagen hören: „Ich bin Katholik, also bin ich auch Jude.“ Oder „Wir sind Geschwister.“ Oder „Ich bin Christin, aber aus Solidarität sage ich manchmal, ich bin Jüdin.“. Es ist eine eigenartige Sache: Der Versuch, Jüdinnen und Juden christlich zu machen, ist so sehr gescheitert, dass er heute – Himmel sei Dank – nicht mehr unternommen werden darf. Nun machen sich Christen in einem fast selbstmissionarischen Akt – wohlgemerkt ohne etwas an ihrer Glaubens- und Lebenspraxis zu ändern - zu „Juden“. Ich nehme die gute Absicht und die Solidarität dahinter wahr. Ich selber habe nichts gegen das Bild der Geschwisterlichkeit, auch wenn manche Jüdinnen und Juden die Ansicht haben, dass wir die Mutterreligion sind. Aber ein christliches Leben zu führen und schnell mal die Rolle der jüdischen Wurzeln der eigenen Religion so zu interpretieren, als sei man dadurch schon jüdisch, ist eine Umarmung, die den Umarmten schmerzt. Jüdisch zu sein bedeutet auch, noch immer an einer leidvollen Geschichte zu kiefeln und die Leerstellen in der eigenen Familie und Gemeinde zu sehen; unsere Ängste und Albträume sind in die Farben der Verfolgung aufgrund unserer Jüdischkeit getaucht. Es bedeutet, sich zu 613 Geboten und mehr irgendwie zu verhalten und sich zwischen den Anforderungen der Orthodoxie und der Verlockung bis Ernsthaftigkeit des Säkularismus zu bewegen. Sich Kraft seines Christseins als „jüdisch“ zu deklarieren, negiert diese schwierigen Erfahrungen.
Hier sehe ich Christ_innen und Jüdinnen_Juden im Dialog ganz oft in unterschiedlichen Positionen: Christ_innen ist eine Art von Offenheit und Einheitsgefühl möglich, die Jüdinnen_Juden wohl nie möglich sein wird. Es braucht Zeit, bis klaffende Wunden sich schließen, und manche Narben verschwinden nie. Aber ich sehe darin auch eine sehr positive Dynamik, die sich gegen gegenseitige Vereinnahmung und „Einheitsbrei“ richtet. Wann immer die eine Seite zu sehr dazu tendiert, die andere in geschwisterlicher Liebe in sich aufzusaugen, wird die andere Seite sich dagegen wehren. Hier sehe ich eine Augenhöhe zwischen Christentum und Judentum: Die Aufschreie der Anderen werden gehört und ernst genommen.
Sarah Egger
19.05.2016

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