Bodendorfer, Gerhard GEMEINSAME QUELLE DES GLAUBENS: DAS ERSTE TESTAMENT

Wenn Christen von der Bibel sprechen, dann meinen sie meist das Neue Testament. Dabei gehört das sog. „Alte Testament” für uns unabdingbar zur Einheit der Heiligen Schrift hinzu. In den letzten Jahren hat sich in den Bibelwissenschaften durchgesetzt, nicht mehr vom Alten Testament zu sprechen. Geeigneter scheinen die Bezeichnungen „Erstes Testament”, „jüdische” oder „hebräische Bibel” oder „Tanach” (Abkürzung aus Tora, Nebiim und Ketubim, also Tora, Propheten und Schriften), wie Juden ihre Bibel nennen. Grund für dieses Umdenken ist die Einsicht, daß der Begriff „Altes Testament” den ersten Teil der Bibel als veraltet oder überholt abqualifiziert. Festgehalten werden soll, daß die Bibel nur in ihrer Einheit Heilige Schrift ist.
FÜR CHRISTEN GILT BEIDES
Damit ist auch die Leserichtung festgelegt. Zuerst ist das Erste Testament als Botschaft von Gott und seinem Volk zu lesen, um verstehen zu können, wer Jesus war. Erst im Lauf der Jahrhunderte entwickelte sich eine fatale Abwertung des Ersten Testaments als „unvollkommenem” Buch, als Buch der Verheißungen, das im Neuen Testament Erfüllung erlebt. Die Relativierung des Ersten Testaments ging mit der Überbietung durch das Neue einher. Alles, worüber das Erste Testament handelte, erhielt seinen wahren Sinn erst in der Deutung auf Christus. Es dauerte bis in unsere Tage ehe erkannt wurde, daß das Erste Testament einen Eigenwert besitzt, der nie durch das Neue Testament aufgehoben sein wird.
In der Rede von Gott als Schöpfer und Gestalter der Welt, in der Beschreibung von konkreter Lebensgestaltung, vom Wert der Gerechtigkeit, von der Freude am Leben, von der Bindung Gottes an Gottes Volk, im Hören auf den Gebetsschatz der Psalmen bringt das Erste Testament Themen ein, die im Neuen vorausgesetzt oder nur bruchstückhaft aufgenommen sind. Ohne das Erste ist das Zweite unvollkommen, farblos und seiner Basis beraubt.
Das Abschlußdokument der 2. Deutschen Ökumenischen Versammlung (Erfurt 1996) erinnert daran, daß
“in der hebräischen Bibel . . . z. B. der Schöpfungsglaube, die Gottebenbildlichkeit des Menschen und die Befreiung aus Versklavung und Unterdrückung konkrete ökonomische Folgen haben (z. B. Jobeljahr). Im Christentum werden die Worte Sünde, Gerechtigkeit und Friede nicht mehr in ihrer materiellen Konkretheit verstanden. Sie werden vergeistigt und individualisiert. Das Christentum ignoriert weitgehend, daß das Recht auf Beheimatung und das Gebot der Fremdenliebe Kernpunkte der jüdischen Ethik sind. Bewahrung der Schöpfung ist ebenso ein Gebot der hebräischen Bibel wie der Friedensauftrag und die Forderung, gerecht zu handeln.”

KEIN BIBEL-STEINBRUCH
Das Erste Testament zeigt Beispiele, wie ein Leben vor Gott gelingen kann. Johannes Paul II. verweist zu Recht darauf, daß der im Ersten Testament geschlossene Bund mit Israel niemals gekündigt ist. Daher lehrt uns das Erste Testament auch den Respekt vor dem Judentum, mit dem wir dieses Dokument des Glaubens an den gemeinsamen Gott teilen. Zudem muß bewußt sein, daß wir nicht wie aus einem Steinbruch Teile der Schrift aussondern können, sondern sie in ihrer Fülle bewahren müssen.
Dr. Gerhard Bodendorfer, Koordinierungsausschuß für christlich-jüdische Zusammenarbeit
Zum Weiterlesen:
• Erich Zenger, Das Erste Testament, Die jüdische Bibel und die Christen, Patmos.
• Roland Gradwohl, Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen, Calwer TB.
 
Aus der Praxis
Am Anfang meines Unterrichts an der Religionspädagogischen Akademie stelle ich jedes Jahr die Frage: Was fällt Ihnen zu “Altes Testament“ ein? Antworten gibt es viele, u. a. der strafende Gott, der vernichtende Gott der Sintflut, aber auch der Gott, dem Abraham vertraut (Gen 15, 6), der Israel und viele Beter der Psalmen rettet und erlöst, der die Welt gut erschaffen und die Menschen gesegnet hat. Die Anregung zum Nachdenken, was man/frau mit „Altes Testament” verbindet, gibt Anlaß zu intensiven Gesprächen.
Vorbilder des Glaubens für uns
Gott hat mit den Menschen (Gen 9, 1–17), mit Abraham (Gen 15; 17), mit Israel (Ex 19–24) und in Jesus (Mt 26, 28) einen unwiderruflichen Bund geschlossen. Keiner ist überholt oder gekündigt, sondern bleibendes Zeichen der Treue Gottes zu den Menschen. In diesem Bund ist Platz für jede menschliche Erfahrung, nicht nur für die guten und schönen. Darum sprechen die Beter der Psalmen auch alles aus, was sie bewegt: Freude, Jubel, Dank, Lob, Bitte, Zorn, Leid, Klage, Vertrauen, Verwünschungen, Bitte um Rettung vor Feinden. Ausgesprochen ist dies im Vertrauen auf die Hilfe Gottes, der den Gerechten zu ihrem Recht verhilft.
Während meines Theologiestudiums habe ich die „vergessene” Wurzel des Christentums entdeckt. In meinem Unterricht sehe ich, daß in einem oft mühsamen Prozeß Verständnis, Wertschätzung und Liebe zum Ersten Testament wachsen. Ich bemühe mich, das Verbindende und die Unterschiede zu sehen, um den Sinn der Schriften zu entdecken und das zu tun, was Gott hier und jetzt will.
Dr. Roswitha Unfried, Professorin, Linz
 
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