Johannespassion: Ein Spiel mit dem Feuer

Gedanken zur Aufführung der der Johannespassion von Johann Sebastian Bach am 29. März 2014 in der Lutherischen Stadtkirche Wien

Von Markus Himmelbauer
Es ist befremdlich, dass der Kreuzestod Jesu, der uns Christinnen und Christen Heil und Erlösung bedeutet, anderen vielfach Verfolgung und Tod durch uns Christen gebracht hat: dem jüdischen Volk.
Peter von der Osten-Sacken nennt die Aufführung von Bachs Johannespassion „ein Spiel mit dem Feuer". Die Passionserzählungen, insbesondere die Johannespassion, seien eine „antijüdische Waffe". Große Aufregung gab es jüngst, weil eine Lehrerin das Wort „Neger" verwendet hat – neutral als Lautfolge in einer Legasthenieübung. Im Vergleich zur hoch emotionalen Polemik gegen Juden und ihren Glauben nun hier war das harmlos. Und hier geschieht es noch mit der Autorität eines heiligen Texts.
Klarstellungen
Die Passionserzählung ist kein Protokoll. Wenn heute durch dieses Musikstück der falsche Eindruck erneuert wird, als hätten „die Juden" Jesu Tod gefordert und bewirkt, dann geschieht dies unter Aufopferung der historischen Wahrheit: So war es nicht! Das Johannesevangelium enthält die Auffassungen und die Darstellungen einer Minderheit, die unter einer ihr ablehnend gegenüber stehenden Mehrheit lebt. In der pauschalen Gegenüberstellung von Jesus mit „den Juden" schafft es eine folgenreiche Konfrontation, die immer noch ohne Distanz als Tatsache weiter getragen wird. Doch seit dem 4. Jahrhundert befinden wir uns aber in einer anderen gesellschaftlichen Machtverteilung, wir stehen in historischer Distanz zu den Ereignissen und zu den Texten, welche diese überliefern.
Hier ist klarzustellen: Jesus selbst war Jude, nicht nur seine Gegner. Auch seine Anhängerinnen und Anhänger Jesu, die bekannt haben, er sei der Messias, waren Juden. Ohne das Auferstehungszeugnis in Wort und Schrift von toratreuen Jüdinnen und Juden gäbe es unseren Glauben nicht.
Antijüdische Polemik

Entgegen der Darstellung des Johannesevangeliums war Pontius Pilatus nicht der gutwillige, zivilisierte aber vom jüdischen Mob bedrängte Statthalter. Historische Quellen sagen, dass er sogar nach dem Maß der römischen Zentralmacht zu grausam regiert hat und letztlich abberufen wurde.
Das Nicht-Verstehen des Judentums durch den Evangelisten zeigen zwei Stellen der Passionserzählung: „Die Juden antworteten ihm: Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz muss er sterben, denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht." (Joh 19,7) Das verkennt, wie restriktiv und mit vielen Formalitäten versehen die Todesstrafe im jüdischen Recht behandelt wird. Die Mischna bezeichnet einen Gerichtshof als mörderisch, der einmal in sieben Jahren ein Todesurteil fällte. R. Eleasar b. Asarja erstreckt dieses Werturteil sogar auf einen Gerichtshof, der einmal im Verlauf von siebzig Jahren die Todesstrafe zur Anwendung bringt. Und R. Tarfon und R. Akiba gehen noch weiter, indem sie erklären: „Wenn wir im Synedrion gesessen hätten, wäre niemals ein Mensch hingerichtet worden."
Ein weiterer polemischer Satz ist die Aussage der Hohenpriester „Wir haben keinen König als den Kaiser." (Joh 19,15) Das pervertiert das starke jüdische Bekenntnis, das in der Geschichte immer wieder seine Märtyrer gefordert hat: „Der HERR ist König ewiglich, dein Gott, Zion, für und für. Halleluja!" (Ps 146,10)
Johann Sebastian Bach selbst greift diese Grundtendenz des Evangeliums auf und als Musiker ist er wohl dankbar für die dramatischen Szenen, die er wirkungsvoll in Töne setzen kann. Die Pfeile, die seine Musik gegen „die Juden" richtet, sind alle schon in seiner Vorlage angelegt.
Gestorben für meine Sünden

Eine Verstehenshilfe bietet uns im ersten Teil der Choral „Wer hat dich so geschlagen?". Es heißt darin: „Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnlein finden des Sandes an dem Meer. Die haben dir erreget das Elend, dich schläget, und das betrübte Marterheer." Der Rettung suchende Sünder oder die Sünderin ist's, die die Passion meditiert und darin Heil findet.

Das ist die Sicht der Marter Jesu, die uns Bach inmitten der emotionalen Chorszenen mitgibt: "Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, muss uns die Freiheit kommen. Dein Kerker ist der Gnadenthron, die Freiheit aller Frommen. Denn gingst du nicht die Knechtschaft ein, müsst unsre Knechtschaft ewig sein." (Choral 22) Es geschieht zu unserem Heil.
Doch diese Einsicht trägt nur bedingt. Im Schlusschoral bittet der Hörer oder die Hörerin: „Ach Herr lass dein lieb Engelein am letzten End die Seele mein in Abrahams Schoß tragen." Und weiter: „Mein Heiland und Gnadenthron, Herr Jesu Christ erhöre mich, ich will dich preisen ewiglich." Die Schuld dessen, der sich zunächst schuldig bekannt hat, ist aus lauter Gnade getilgt; jene der Juden nicht. Sie müssen Gnaden-los weiter leben. Dass Jüdinnen und Juden auch fromm sein, Gott loben könnten – denselben Gott wie wir – bleibt hier wohl gänzlich außer Betracht.
Die Last der Geschichte

Und selbst, wenn wir diesen individuellen Zugang zu dieser Geschichte finden, so dürften wir uns nicht darauf zurückziehen, etwa nach dem Gedanken: Wir haben in der Vergangenheit den Text eben falsch verstanden, jetzt verstehen wir ihn gottseidank richtig.

Es bleibt, was an Gewalt gegen das jüdische Volk geschehen ist: Verleumdung, Vertreibung Tod – gerade ausgehend von diesen Szenen. Und wer gibt uns die Gewähr, dass diese ablehnende Haltung Juden gegenüber heute endgültig überwunden ist, dass unsere vermeintliche Aufgeklärtheit Bestand hat?
"Die Tatsache, dass die Schoa in Europa stattfand, das heißt in Ländern mit einer langen christlichen Kultur, wirft die Frage nach der Beziehung zwischen der Verfolgung durch die Nationalsozialisten und der Haltung der Christen gegenüber den Juden in allen Jahrhunderten auf." So heißt es vorsichtig in einem vatikanischen Rundschrieben aus dem Jahr 1998. Deutlicher und klar stellt die Erklärung „Zeit zur Umkehr" der Generalsynode der Evangelischen Kirchen in Österreich im selben Jahr selbstkritisch fest: "Der biologische und politische Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts konnte sich des christlichen Antijudaismus als religiös-ideologischer Bestätigung bedienen."
Die an der Judenverfolgung im Dritten Reich aktiv beteiligt waren, waren wohl zum Großteil Kirchenmitglieder. Das große Schweigen und Gewährenlassen der meisten anderen Christinnen und Christen aber dürfte nicht ohne jenes jahrhundertealte und christlicherseits immer wieder neu eingeprägte Vorurteil zu erklären sein: Das, was den Juden an Unrecht und Unheil widerfährt, gebührt ihnen so, weil ihnen damit im tiefsten ein von ihnen selbst durch die Kreuzigung Jesu heraufbeschworenes Geschick widerfährt.

Das alles gehört zur bleibenden Wirkungsgeschichte der Passion, das schleppen wir als Last mit uns herum. Es ist ein Zeichen der Wahrhaftigkeit, dass ich dies hier ansprechen kann. Das muss unsere direkte Empfindung stören, wenn wir dieses großartige Werk hören.
Was tun?

Wenn wir heute Abend mit dem Feuer judenfeindlicher Stimmungen spielen: Was können wir tun, um die Flamme klein zu halten?

Dagmar Hoffmann-Axthelm schlägt vor: Wir könnten die Passion hören im Andenken an die ungezählten Jüdinnen und Juden, die in zwei Jahrtausenden im Namen Christi und anderer gekreuzigt worden sind. Mit der Aufführung von Bachs Passion bietet sich uns, die wir durch Bachs Musik so reich beschenkt werden, die Gelegenheit, beim Erleben dieser Musik die Bewusstseinsarbeit Felix Mendelssohns fortzusetzen: In Trauer, Demut und Versöhnungsbereitschaft können wir unserer eigenen ‚jüdischen Abstammung' gedenken.

Und Peter von der Osten-Sacken meint: Wir müssen uns der unabweisbaren und schwierigen Aufgabe stellen, das in vielem so leuchtende Evangelium nach Johannes an diesen dunklen Stellen seiner antijüdischen Aussagen neu zu buchstabieren und es neu für die christliche Seite zu gewinnen, ohne der jüdischen zu schaden.
Quellen

● Markus Cohn, Todesstrafe, in: Wörterbuch des Jüdischen Rechts, Neudruck 1980 der im „Jüdischen Lexikon" (1927-1930) erschienenen Beiträge von Marcus Cohn www.juedisches-recht.de/lex_str_todesstrafe.php

●Dagmar Hoffmann-Axthelm: Die Judenchöre in Bachs Johannes-Passion, Der Thomaskantor als Gestalter lutherischer Judenpolemik: in: Freiburger Rundbrief 5. Jahrgang /1998, Seite 103, www.freiburger-rundbrief.de/de/?item=569

● Peter von der Osten-Sacken: Bachs Johannes-Passion, das Johannesevangelium und das Problem christlicher Judenfeindschaft, in: Zutrauen zur Theologie. 60-FS f. Christof Gestrich. Hg. v. A.-K. Finke/J. Zehner, Berlin 2000, S. 250-272.

● Berthold Seewald, Wer war der Mann, der Jesus zum Tode verurteilte?, in: Die Welt, 06.04.2012, www.welt.de/kultur/history/article106125581/Wer-war-der-Mann-der-Jesus-zum-Tode-verurteilte.html

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