ZWISCHEN WIEN UND BUDAPEST

Wien. Zwei hochrangige Fachleute stellten am 21. Mai im Collegium Hungaricum Wien jüdische Familien-Geschichte(n) zwischen Wien und Budapest vor. Katalin Fenyves und Georg Gaugusch waren sich darin einig, dass das jüdische Bürgertum im 19. Jahrhundert eine neue gesellschaftliche Entwicklung darstellte, für die es bis dorthin noch kein Vorbild gegeben hatte. Der Autor, Literaturkritiker und Ungarn-Kenner Cornelius Hell moderierte den Abend.
ÜBERRE
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GIONAL UND MULTINATIONAL

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert herrschte ein reger Austausch zwischen Wien und Budapest. Jüdische Persönlichkeiten und Familien, die in beiden Donaumetropolen und im gesamten ost-mitteleuropäischen Raum verwurzelt waren, trugen als Unternehmer und Künstler zum materiellen, kulturellen und wissenschaftlichen Aufschwung dieser Epoche wesentlich bei. Das jüdische Bürgertum war von 1850 bis zum Zweiten Weltkrieg sowohl in Wien als auch in Budapest eine der tragenden Säulen der Gesellschaft. „Anders als die in ihren Konventionen feststeckende Aristokratie und das von den Entwicklungen des 19. Jahrhundert überrollte Kleingewerbe und Handwerk, das seine Rettung oft im Chauvinismus suchte, war es überregional, multinational und zukunftsorientiert ausgerichtet“, erzählte der Wiener Genealogie-Forscher Georg Gaugusch. Er bezeichnete es als besonders tragisch für das Schicksal Mitteleuropas, dass die national-chauvinistischen und trennenden Kräfte gegenüber den einigenden siegten und diese Region Europas erst nach fast 80 Jahren der Trennung, unter dem Mantel der Europäischen Union dort fortsetzen könne, wo sie 1914 aufgehört hatte.
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WIRTSCHAFTSBOOM IN UNGARN
Die in Budapest lehrende Judaistin und Sozialwissenschaftlerin Katalin Fenyves erzählte, wie stark die Familien der jüdischen Diaspora in Ost-Mittel-Europa miteinander verbunden waren: Durch Jahrhunderte von Verfolgung, unbeständigem wirtschaftlichem Erfolg und religiös bedingter Endogamie aneinander geschmiedet, verwandt und verschwägert, nahmen sie tatkräftig an der Herausbildung des Bürgertums, der Wissenschaft, der Künste und der modernen Presse in Wien genauso wie in Ungarns Hauptstädten – bis 1848 Pressburg, dann Pest, ab 1873 Budapest – teil. „Wenn auch die Forschung zumeist nur die Migrationsrichtung Ost-West, die Anziehungskraft der österreichischen Metropole betont, war diese Bewegung vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht selten auch gegenläufig, und folgte der unsteten Entwicklung des wirtschaftlichen und des kulturellen Lebens“, so Fenyves.
Erfolgreiche Unternehmerfamilien hatten oft Niederlassungen in Wien, Pressburg und Pest, umso mehr, da vor 1840 nur ein Sohn das väterliche Geschäft weiterführen durfte (Familiantengesetz). Ihre Enkel taten sich dann nicht selten als leitende Künstler, Wissenschaftler oder Journalisten hervor. Die Namensliste reicht von dem aus Pressburg stammenden Michael Lazar Biedermann, einem der Gründer des Tempels der Seitenstettengasse über Johann Schnitzler, Vater von Arthur, Leiter der Allgemeinen Poliklinik bis hin zu den Geschäftsmännern Jakob Herzl, Vater von Theodor oder Joachim Heinrich Wertheimer, Großvater des namhaften ungarischen Philosophen Georg Lukács. Ihnen soll in dieser Podiumsdiskussion gedacht werden.
EINE GESELLSCHAFTLICHE GRUPPE OHNE VORBILD
Zunächst war es für Juden noch verboten, ein Handwerk auszuüben (Abschaffung der Zünmfte in Österreich 1859, in Ungarn 1872). So begannen jüdische Familien mit der industriellen Produktion von Gütern, was ihnen erlaubt war, erinnerte Gaugusch. Damit machten sie dem Handwerk Konkurrenz, was wiederum dessen Ressentiments gegenüber dem Judentum hervorrief. Einig waren sich Gaugusch und Fenyves in der Beurteilung, dass das jüdische Bürgertum des 19. Jahrhunderts nicht mit dem Begriff „Assimiliation“ charakterisiert werden könne. „An welche Gruppe hätte das jüdische Großbürgertum sich assimilieren sollen? So etwas hatte es bislang noch nicht gegeben. Das jüdische Bürgertum hat nichts gemein mit dem christlichen Biedermeier-Bürgertum“, so Gaugusch.
Der Wiener Hof betrieb eine integrierende Politik gegenüber dem Judentum, ist Gaugusch überzeugt. In Preußen gab es bis 1918 nur vier nobilitierte Juden, in Österreich-Ungarn waren es 443 Familien, insbesondere in Ungarn. Auch wenn Nobilitierungen abgelehnt wurden – was nicht nur jüdische Familien betraf –, so geschah dies nicht mit antisemitischen Argumenten. „Es zählten nur die Verdienste, ob er Jude ist oder nicht, steht nicht in den Akten“, berichtete Georg Gaugusch über seine Untersuchungen der Jahre 1900/ 1901. Fenyves skizzierte den Beitrag des Judentums zum Entstehen eines liberalen ungarischen Nationalismus, eine kulturelle Leistung, die ihm jedoch bald wieder aberkannt wurde.
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EIN „GOLDENES ZEITALTER“?
In einem geistreichen Gespräch schöpften Fenyves und Gaugusch aus der Unmenge ihres historischen Wissens und verstanden es, Zusammenhänge und Hintergründe jener Zeit lebendig darzustellen. Cornelius Hell fragte, warum dann gerade nach dieser fast „goldenen Ära“ gerade in Ungarn die ersten antisemitischen Gesetze Europas ab 1920 beschlossen wurden?
Mögliche Antworten darauf müssten viele Perspektiven mit einbeziehen, meinten Gaugusch und Fenyves: Eine gewisse Reserviertheit gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger habe es immer gegeben, auch wenn die bürgerliche Elite dies nicht wahrhaben wollte: Man hielt am Gedanken der Aufklärung fest, die „Argumente“ Antisemitismus wurden schon längst als widerlegt betrachtet. Bei den Revolutionen von 1918/ 19 waren jüdische Aktivisten an vorderster Linie beteiligt. Selbst wenn diese Personen selbst ihre jüdische Abstammung nicht wichtig nahmen, in der übrigen Bevölkerung wurde dies als „jüdische Machtübernahme“ gedeutet und bleibt bis heute als dieses Stereotyp präsent: Der Verlust des großen ungarischen Staatsgebiets verbunden mit linker Vorherrschaft und Juden bildet in Ungarn bis heute eine gedankliche Einheit.
Das Gespräch erinnerte auch an die politischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert, die dieses Zeitalter zum Erliegen gebracht haben, weil ihre Träger vertrieben und ermordet wurden. Die Erinnerung daran durchkreuzt jede sentimentale Nostalgie.
Der Abend war eine gemeinsame Veranstaltung des Balassi-Instituts/ Collegium Hungaricum Wien, der Ungarischen katholischen Gemeinde Wien und des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Die einladenden Organisationen fühlen sich gemeinsam dem Auftrag verpflichtet, sich der Geschichte zu erinnern und heute weiterzuführen, was seit Jahrhunderten Tradition ist: Begegnung und Zusammenarbeit entlang der Donau zu pflegen und zu fördern.
Markus Himmelbauer

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