Holtschneider, K. Hannah DABRU EMET UND JÜDISCHE INTERPRETATIONEN DES CHRISTENTUMS

In diesem Vortrag möchte ich zunächst das Dokument Dabru Emet vorstellen. In einem zweiten Teil möchte ich auf die Rezeption von Dabru Emet in jüdischen Kreisen eingehen. Um zu verstehen, wie diese verschiedenen Positionen zustande kommen, ist ein Blick in die Geschichte des Dialogs notwendig.

Am 10. September 2000 wurde Dabru Emet, eine „jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum“1) in der New York Times und der Baltimore Sun als einseitige Anzeige veröffentlicht. Dabru Emet, „Redet Wahrheit“, stellt in acht Thesen und diesen folgenden kurzen, erklärenden Paragraphen eine jüdische Interpretation von Christen und Christentum vor und möchte den Weg für eine jüdisch-theologische Würdigung christlich-jüdischer Zusammenarbeit weisen. Der Anspruch ist nicht nur eine vorläufige Bestandsaufnahme des gegenwärtigen jüdischen Verständnisses des Christentums, sondern setzt sich das Ziel, jüdisch-theologische Wahrheit über das Verhältnis des Judentums zum Christentum zu verkünden. Diese Stellungnahme und ihr Anspruch wurden unter jüdischen Gelehrten vielfältig diskutiert. Beiträge kamen aus allen religiösen Lagern und oft war Dabru Emet der Anstoß, grundsätzliche Kommentare zum christlich-jüdischen Religionsgespräch und jüdischer Beteiligung daran zu geben.


In diesem Vortrag möchte ich zunächst das Dokument Dabru Emet vorstellen. Wir müssen näher mit den AutorInnen vertraut werden und verstehen, mit welchen Anliegen und welchem Hintergrund diese Stellungnahme formuliert und veröffentlicht wurde. In einem zweiten Teil möchte ich auf die Rezeption von Dabru Emet in jüdischen Kreisen eingehen und einige auf die Veröffentlichung folgende Würdigungen nachzeichnen. Hier möchte ich mich besonders auf die Rechtfertigungen und Begründungen jüdischer Teilnahme am oder Verweigerung des Dialogs mit Christen konzentrieren. Um zu verstehen, wie diese verschiedenen Positionen zustande kommen, ist ein Blick in die Geschichte des Dialogs notwendig. Des Weiteren ist es nötig zu fragen, auf welche Quellen sich die heutigen jüdischen Positionen beziehen, um ihre Zustimmung oder Ablehnung Dabru Emets und/ oder des Dialogs zu begründen. Hier ist es besonders wichtig zu fragen, wie sich jüdische Definitionen des Verhältnisses von Judentum und Christentum zu Interpretationen der Anliegen eines Dialogs von Juden und Christen verhalten. Die Kontroverse um die Teilnahme am Dialog und die Konsequenzen solcher Beteiligung wird besonders stark in orthodoxen Kreisen geführt. So wird sich dieser Teil des Vortrags vorwiegend mit Beiträgen von orthodoxer Seite beschäftigen, seien es direkte Stellungnahmen zu Dabru Emet oder grundsätzliche Überlegungen zum Dialog mit Christen. Schließen möchte ich mit Überlegungen über Möglichkeiten, diese Kontroversen für die Weiterentwicklung des Dialogs fruchtbar zu machen. Allzu oft werden orthodoxe Kritiken am christlich-jüdischen Gespräch als “Partypooper“ wahrgenommen, die willkürlich die Fortschritte christlicher Theologie und christlichen Selbstverständnisses in Abkehr von antisemitischen Positionen und der Judenmission ignorieren und sich auf ablehnende Haltungen versteifen. Realitätsferne und Misstrauen werden von nicht-orthodoxer Seite gerne angeführt, um die vermeintliche „Zurückgebliebenheit“ orthodoxer Positionen gegenüber dem Dialog mit Christen zu erklären. Es besteht die Gefahr, dass orthodoxe Positionen hier zu Randpositionen des Gesprächs werden. Dem entgegen möchte ich versuchen, orthodoxe Ablehnung und Zustimmung zum Dialog als hilfreiche Anstöße zum Weiterdenken aufzugreifen, die sowohl Juden als auch Christen zu einer tieferen Selbstreflexion der eigenen Identität und Theologie im christlich-jüdischen Religionsgespräch anregen können.

National Jewish Scholars Project: Dabru Emet (Redet Wahrheit) – Eine jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum
In acht Thesen stellen vier AutorInnen – Tikva Frymer-Kensky, David Novak, Peter Ochs und Michael Signer – einen Diskussionsvorschlag für eine jüdische Interpretation des Christentums vor.2) Dabru Emet ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit einer Gruppe jüdischer Wissenschaftler, dem National Jewish Scholars Project, deren erste Zusammenkunft mehr als zehn Jahre zurückliegt.

Die Arbeitsgruppe National Jewish Scholars Project diskutiert das Christentum aus jüdischer Sicht.3) Gegründet wurde die Gruppe von jüdischen WissenschaftlerInnen, die sich in ihrer Forschung mit christlichen Quellen beschäftigen, sei es auf religiöser, historischer, soziologischer oder kultureller Basis. Die Gruppe teilte sich bald in zwei Lager. Auf der einen Seite standen die TeilnehmerInnen, die das Christentum ausschließlich aus historischer Perspektive interpretierten und daher an „objektiven Fakten“ interessiert waren. Historisch dominiert die Einschätzung des Christentums als eine Gefahr für Juden, die ständig durch neue Fakten untermauert werden kann und daher nicht zu einer positiven Einschätzung des Christentums im Zuge heutiger theologischer und soziologischer Entwicklungen einlädt. Auf der anderen Seite standen diejenigen, denen ein Verständnis des Christentums als lebendige Religion, basierend auf eigenen Erfahrungen mit Christen und christlich-theologischer Entwicklungen seit 1945, immer wichtiger wurde. Michael Wyschogrod, Professor of Religious Studies and der University of Houston, Texas und anfänglich Mitglied dieser Gruppe, initiierte die Diskussion über eine „besonnene und ernsthafte Überarbeitung eines [jüdischen] Verständnisses des Christentums“ (Signer1). Im Laufe der Jahre sprangen Mitglieder ab und neue kamen hinzu, so dass die AutorInnen der Stellungnahme nicht mehr die ursprüngliche Zusammensetzung der Arbeitsgruppe widerspiegeln. Das fertige Produkt der Überarbeitung des jüdischen Verständnisses des Christentums, Dabru Emet, wurde an ausgewählte Rabbiner und jüdische Wissenschaftler gesandt, mit der Bitte um Rückmeldung und der Hoffnung auf Unterzeichnung. Mittlerweile haben mehr als 170 Gelehrte der meisten jüdischen religiösen Gruppierungen die Erklärung unterzeichnet, und viele haben sich an der Diskussion der Stellungnahme beteiligt. Orthodoxe Unterzeichner sind in der Minderheit von ca. 5%. Als Zugabe, sozusagen, veröffentlichte die Gruppe ein Arbeitsbuch, „Christianity in Jewish Terms“, das die mit Dabru Emet begonnene Diskussion des Christentums unter jüdischen Gelehrten auf akademischer Basis austestet. Die Themen dieses Aufsatzbandes liefern gewissermaßen den fachlich notwendigen Hintergrund der knappen Stellungnahme Dabru Emet.

Mit Dabru Emet beginnt die Arbeitsgruppe eine jüdische Antwort auf Prof. Peter von der Osten-Sackens Frage „Wer sind wir Christen in euren Augen?“ (Signer1). Dieser „Antwort-Vorschlag“ möchte als eine Entgegnung zu christlichen Stellungnahmen wie Nostra Aetate und dem Rheinischen Synodalbeschluss von 1980 verstanden werden, die christlichen Glauben in der Gegenwart von jüdischer Seite wahrnimmt und positiv würdigt. Dabru Emet richtet sich zuerst an ein jüdisches Publikum, hat aber auch eine christliche Leserschaft ins Auge gefasst (Baltimore Sun, für RCC und Vatikan). Dies wird durch Veröffentlichungsort und -zeit deutlich. Kurz vor dem jüdischen Neujahr veröffentlicht, wurde Dabru Emet zur Grundlage vieler Predigten zu Rosch Haschana und Jom Kippur, dem jüdischen Neujahr und Versöhnungstag. Doch Dabru Emet begrüßt auch eine christliche Leserschaft. Das Christentum der Gegenwart, so sollen jüdische Leser lernen, ist keine Bedrohung des Judentums mehr, wie dies historisch der Fall war. Christliche Theologie im Hinblick auf Juden und Judentum hat sich seit 1945 derart gewandelt, dass Christen eher als Partner denn als Rivalen verstanden werden können. Dem christlichen Publikum wird zu verstehen gegeben, dass die christliche theologische Neuorientierung nach dem Holocaust von Juden gehört wird und Anerkennung findet.4)

Dabru Emet in der inner-jüdischen Diskussion
Die Veröffentlichung von Dabru Emet in der New York Times und der Baltimore Sun am 10. September 2000 entfachte eine Kontroverse unter jüdischen Gelehrten.5) Die Teilnehmer der Kontroverse sind in allen jüdischen religiösen Gruppierungen zu Hause, haben die Erklärung entweder unterzeichnet oder sich gegen eine Unterschrift entschieden und sehen sich gedrängt, ihre jeweilige Entscheidung in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Nicht zuletzt haben die AutorInnen der Stellungnahme in kurzen Erklärungen oder längeren Aufsätzen ihr Werk erläutert. Beiträge sind in Diskussionsforen religiöser Publikationen zu finden – z.B. CrossCurrents, Commonweal, Commentary, National Catholic Reporter – sowie in Gemeindeblättern, Newsletters christlich-jüdischer Organisationen, die Dabru Emet in eigenen Veranstaltungen diskutieren, und Internet-Foren, die sich an bestimmte religiöse Gruppierungen oder ein christlich-jüdisches Publikum richten – z.B. Jewish Action, torah.org, jcrelations.net, icjs.org (die Website des Institute for Christian-Jewish Studies). Wie die Erstveröffentlichung der Stellungnahme, so spielte sich zu Beginn auch die Diskussion größtenteils in Amerika ab, so sehr, dass Edna Brocke feststellte, dass „diese Stellungnahme in Europa kaum wahrgenommen wurde“ (Brocke). Mittlerweile findet sich jedoch eine ganze Reihe europäischer Beiträge. Seit der Veröffentlichung Dabru Emets haben besonders auch im deutschsprachigen Raum zahlreiche Tagungen dazu stattgefunden, deren Beiträge in einigen Sammelbänden veröffentlicht wurden.6) Obwohl die „Amerikanozentrierung“ (Rosen) Dabru Emets deutlich ist und diese für Edna Brocke anscheinend auch erklärt, warum die Stellungnahme
„keinen einzigen Blick auf die Situation des Dialogs in Europa (oder in der Bundesrepublik) lenkt und nicht wahrnimmt, wie mutig hier bereits argumentiert wird“ (Brocke),
ist die inner-jüdische Diskussion um Dabru Emet und den christlich-jüdischen Dialog auch außerhalb Amerikas sehr wohl von Bedeutung.

Die heftigste Kritik richtet sich gegen Thesen 1 und 5. Dass Juden und Christen den gleichen Gott anbeten, wird mit Blick auf die Göttlichkeit Jesu und die Trinität bestritten, da diese die Einheit Gottes in Frage zu stellen scheinen. Die These, dass der Nazismus kein christliches Phänomen sei, ruft unabhängig von der darauf folgenden Erläuterung Gegenstimmen auf den Plan, die hier vor allem eine Entschuldung christlicher Mittäterschaft am Holocaust lesen. Abgesehen von der 8. These, die zu christlich-jüdischer Kooperation in der Praxis aufruft und damit unproblematisch scheint, finden alle Thesen starke Opposition. Dass Dabru Emet sich auf kurze Sätze beschränken muss und keine wissenschaftliche Abhandlung ist, sehen alle Diskussionsteilnehmer ein. Doch folgern einige daraus, dass lediglich Ungenauigkeiten in der Formulierung behoben werden müssen, während andere sich nur mit wissenschaftlich qualifizierten Aufsätzen zum Thema zufrieden zu geben scheinen. Dabru Emet hat die jüdische Welt unerwartet tief erschüttert.

Die AutorInnen sehen Dabru Emet als einen Anstoß zum Gespräch unter Juden:
„Dabru Emet wurde als eine Zeitungsanzeige veröffentlicht. Es ist eine politische Stellungnahme, die Aufmerksamkeit erregen soll und den kleinsten gemeinsamen Nenner herstellt, den jede ernsthafte Diskussion braucht." (Frymer-Kensky, Novak, Ochs, Signer in Frymer-Kensky)
Die AutorInnen sind sich bewusst, dass die Stellungnahme kontrovers aufgefasst werden kann, und scheuen sich nicht, in Streitgespräche einzutreten, die zu einem besseren Verständnis des Themas und der Anliegen der Gesprächspartner führen. Der orthodoxe Rabbiner David Rosen, Präsident des Internationalen Jüdischen Komitees für den interreligiösen Dialog (IJCIC), kann dem zustimmen und begrüßt vor allem die positive theologische Bewertung des christlich-jüdischen Dialogs in Dabru Emet:
„Mit Dabru Emet weist der wohl breiteste Konsens der jüdischen religiösen und akademischen Elite eindeutig negative Haltungen zum jüdisch-christlichen Dialog zurück." (Rosen)
Völlig gegensätzlich argumentiert sein Kollege Hillel Goldberg, Dozent für Modern Jewish Thought an der Hebräischen Universität und Dozent für Musar am Jerusalem Torah College, der von einer solchen theologischen Umorientierung nichts hält, da er jüdische Beteiligung am christlich-jüdischen Dialog lediglich als Schutz jüdischen Lebens versteht:
Weder benötigt die Motivation der jüdischen Beteiligung am Dialog – christliche Judenverfolgung zu verhindern – eine jüdische Verwicklung ins Christentum, noch ist eine solche legitim. (Goldberg)
Ebenfalls negativ greift Jacob Neusner, konservativ, Research Professor of Religion and Theology am Bard College, New York, in die Debatte ein, und unterstellt den AutorInnen und Unterzeichnern Dabru Emets, seinen wissenschaftlichen Kollegen und Mitgliedern seiner eigenen religiösen Gruppierung, mangelnde Kenntnis jüdischer Geschichte und Theologie:
Die völlige Missrepräsentation der jüdischen Sicht des Christentums … ist eine notwendige theologische Schutzreaktion, die die Schande des Reform- und konservativen Judentums und ihrer feigen Politik [legitime Eheschließung von Juden und Nichtjuden] vertuschen soll. Was die wenigen orthodoxen Unterzeicher motivierte, kann ich mir nicht vorstellen. (Neusner in Frymer-Kensky)
Jon Levenson, orthodox, Associate Professor of Hebrew Bible an der theologischen Fakultät der Universität Chicago, nicht minder uneins mit Dabru Emet und seinen AutorInnen, erkennt prinzipiell die Möglichkeit und vielleicht sogar Notwendigkeit einer solchen Stellungnahme an, ist jedoch, unter anderem, mit dem vermeintlichen Ethos des interreligiösen Dialogs, den er auch in Dabru Emet widergespiegelt sieht, nicht einverstanden:
Dabru Emet ist in eine der größten Fallen des interreligiösen Dialogs getreten …. Es ist unausweichlich verführerisch in solchen Situationen jede offene Diskussion grundlegender Glaubensinhalte zu vermeiden und stattdessen dem Modell der Auflösung der Widersprüche oder der diplomatischen Verhandlungen zu folgen .... Gemeinsamkeiten werden betont und Unterschiede … werden verniedlicht, vernachlässigt oder vollständig geleugnet. Sobald dieses Dialogmodell übernommen wird, ist das Ziel nicht nur Übereinstimmung, sondern gegenseitige Bejahung; die kritischen Urteile, die die religiösen Traditionen in der Vergangenheit jeweils über die anderen abgegeben haben, werden in zunehmendem Maße nur noch als das tragische Produkt von Vorurteil und Missverständnis dargestellt. (Levenson)
Wenden wir uns nun der Diskussion der 1. These zu, denn ein Großteil der Kontroverse um die restlichen Thesen, sowie die fehlende Auseinandersetzung um die 8. These folgen in ihrer Logik der Auseinandersetzung mit These 1. Die weitere Diskussion kontroverser Glaubensaussagen und theologischer Thesen entwickelt sich aus der Ablehnung dieser These. Wenn Juden und Christen nicht den gleichen Gott anbeten (These 1), dann scheint für die Gegner der Stellungnahme daraus logisch zu folgen, dass Juden und Christen sich weder auf die gleichen schriftlichen Dokumente beziehen (These 2), noch gleichen moralischen Prinzipien folgen können (These 4), noch einander verwandte eschatologische Hoffungen haben (These 6). Einzig Jon Levenson benennt mit seiner, manchmal etwas harschen, Kritik jeder These, den Diskussionsbedarf und die Schwierigkeiten, die sich für Juden und Christen aus der Zustimmung zur Stellungnahme ergeben können.

Die Geister scheiden sich vor allem an der Notwendigkeit einer Erneuerung des jüdischen theologischen Verständnisses des Christentums. Hier ist es wichtig, zunächst zu erörtern, wie einzelne Kommentatoren an die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum herangehen, ob z.B. theologisch argumentiert wird oder sich theologische Fragen nicht in den Vordergrund drängen, da die Herangehensweise von einem nicht-diskutierten theologischen Vorverständnis bestimmt wird. Jegliche Verhältnisbestimmung beruht auf theologischen Grundentscheidungen, doch spielen diese in der Diskussion nicht immer explizit eine Rolle. Diese verschiedenen Ansätze der Kommentatoren werden besonders bedeutsam, wenn wir die Bezüge zu mittelalterlichen jüdischen Würdigungen des Christentums in diesen Kommentaren analysieren. David Novak stellt fest, dass im Mittelalter (theologische) Würdigungen des Christentums, mit einigen Variationen, der Stärkung jüdischen Selbstverständnisses im Gegensatz oder gar in heilsgeschichtlicher Rivalität zum Christentum dienten. Wie solche mittelalterlichen Urteile in Kritiken Dabru Emets herangezogen werden – oder auch nicht – ist daher eine spannende Frage, die viel über das jüdische Selbstverständnis des Interpreten aussagt.

These 1:
Juden und Christen beten den gleichen Gott an. Vor dem Aufstieg des Christentums waren es allein die Juden, die den Gott Israels anbeteten. Aber auch Christen beten den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Schöpfer von Himmel und Erde an. Wenngleich der christliche Gottesdienst für Juden keine annehmbare religiöse Alternative darstellt, freuen wir uns als jüdische Theologen darüber, dass Abermillionen von Menschen durch das Christentum in eine Beziehung zum Gott Israels getreten sind.
Für Michael Signer, einer der Verfasser Dabru Emets und Abrans Professor of Jewish Thought and Culture an der University of Notre Dame, ist die Kontroverse um diese These symptomatisch für fehlende Kreativität im Umgang mit der Stellungnahme. Mit Hinweis auf jüdische Diskussionstraditionen schlägt er vor, dass jede einzelne These Dabru Emets sowohl als Aussage als auch als Frage gelesen werden kann:
Zum Beispiel, „Beten Juden und Christen den gleichen Gott an?“ oder „Können Christen den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel respektieren?“ ... Ich verstehe jede der Thesen als eine Q u a e s t i o D i s p u t a t a. (Signer1, Hervorhebung im Original)
Andere Kommentare zu dieser These lesen hier keine doppelten Bedeutungsmöglichkeiten. Sie weisen die These schlichtweg ab, ohne auf den erklärenden Text überhaupt einzugehen. Auch zeigen sie kein Interesse an einer weiterführenden Diskussion des Inhalts der These, wie sie in Aufsätzen des Sammelbandes “Christianity in Jewish Terms“ zu finden sind. Die These als Frage aufzufassen, ist angesichts mangelnder Gesprächsbereitschaft der Kommentatoren nicht dazu geeignet, die Diskussion auf die Ebene eines konstruktiven Gedankenaustauschs zu heben.

Orthodoxer Rabbiner Dr. David Berger, Geschichtsprofessor am Brooklyn College, New York, stimmt zwar der These im Wortlaut zu, möchte sie aber qualifiziert wissen, um Missverständnisse zu vermeiden:
Obwohl es richtig ist, zu betonen, dass Christen „den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Schöpfer des Himmels und der Erde“ anbeten, ist es notwendig hinzuzufügen, dass die Verehrung Jesu von Nazareth als eine Fleischwerdung oder als ein Teil Gottes nach jüdischem Gesetz und Theologie avodah zarah oder Götzendienst ist – wenigstens wenn dies von einem Juden ausgeübt wird. (Berger)
Diese Unterlassung ist ein Grund, warum Berger die Stellungnahme nicht unterzeichnete. Doch spricht seine Qualifizierung der avodah zarah (Götzendienst), als nur für Juden gültig, Bände. Die These ruft Juden nicht zur Verehrung Jesu von Nazareth auf, noch greift sie in jüdische Gottesdienstformen ein. Seit dem Mittelalter sind nach gängiger aschkenasischer Auffassung Christen aus verschiedenen Gründen nicht mehr als Götzendiener disqualifiziert worden. Nach talmudischer Diskussion sind Christen keine Götzendiener, da sie in die Kategorie derer fallen, die, obwohl sie eine andere Manifestation mit Gott assoziieren (shituf), diese Assoziation keine Teilung Gottes in mehrere Götter nach sich zieht. Shituf ist erlaubt für Nichtjuden, d.h. in diesem Zusammenhang für Christen. Für Juden ist shituf jedoch untersagt und fällt in die Kategorie des Götzendienstes, avodah zarah. Daher, obwohl avodah zarah für einen Juden, der an christlichem Gottesdienst teilnimmt, nach wie vor gilt, ist die These, dass Christen und Juden, durch die Assoziation mit Jesus, den gleichen Gott anbeten, schon lange nicht mehr überraschend. Entweder hat Berger die These nicht genau gelesen, oder er hat andere Gründe für seine Ablehnung der Aussage, Gründe, die zwischen den Zeilen zu lesen sind, sich im tatsächlichen Text aber verborgen halten. Ebenso bleibt es unklar, warum Edna Brocke, die mit Bezug auf die gesamte Stellungnahme behauptet, dass diese das wesentlich mutigere christlich-jüdische Gespräch in Europa nicht wahrnimmt, sich einer in Europa, zumindest von christlicher Seite, unbestrittenen und von jüdischer Seite lange zuvor bereits anerkannten Äußerung nicht anschließen möchte. Sie versteht diese erste These als eine Universalisierung eines besonderen Verhältnisses, die nicht zulässig ist, da sie die jüdische Gottesbeziehung aus ihrer “ethnischen Bindung“ löst und abstrahiert.7)

Weitere Kommentare argumentieren wesentlich heftiger. Rabbiner Hillel Goldberg lehnt die erste These mit Verweis auf Maimonides ab, den andere für ihre Zustimmung heranziehen. Während dies begründet werden kann, lässt die Logik seiner Aussage zu wünschen übrig.
Diese Aussage hat keine Grundlage. Es wäre eine dramatische Überraschung für jüdische Philosophie, von ihren Anfängen über ihre maßgeblichen Kommentare, einschließlich Maimonides ... Ein Jude kann Gott nicht durch Jesus verstehen. Ein Christ kann Gott nicht ohne Jesus verstehen. Es ist nicht der gleiche Gott. (Goldberg)
Es stellt sich die Frage, wer oder was hier verteidigt werden soll. Dass es verschiedene Zugangswege zu Gott gibt, erzwingt nicht den Schluss, dass es daher nicht der gleiche Gott sein kann. Hier schaltet sich David Rosen ein und legt dar, dass schon die Bibel auf verschiedene Gottesverständnisse aufmerksam macht und das Bewusstsein dafür schafft, dass es verschiedene Wege zu Gott gibt:
Die einzigartige göttliche Selbstbezeichnung im Buch Exodus, “Ich bin das, was ich bin“ oder wörtlicher, „ich werde das sein, was ich sein werde,“ ist eben genau als Ausdruck dessen verstanden worden, dass nicht zwei Menschen das gleiche Gottesverständnis teilen. (Rosen
Jon Levenson, ebenfalls orthodox, bringt eine hilfreiche Qualifizierung in die Debatte, indem er auf die Probleme hinweist, die die Aussage der ersten These historisch aufwirft. Ohne Hinweise auf die Schwierigkeiten, die Juden überwunden haben, um Christen nicht mehr als Götzendiener anzusehen, ist die These für Levenson unvollständig. Seiner gesamten Kritik Dabru Emets unterliegt der Vorwurf einer Geschichtsvergessenheit der AutorInnen in ihrem Enthusiasmus über die Fortschritte des christlich-jüdischen Gesprächs seit 1945. Die Stellungnahme übersieht daher nicht nur jüdisches theologisches Ringen, sie nimmt anscheinend auch christliche Glaubensaussagen, die Dabru Emet widersprechen, nicht wahr
Juden waren nicht immer davon überzeugt, dass Christen den gleichen Gott anbeten. … Selbst in der mittelalterlichen aschkenasischen Welt, in der eine gänzlich andere Sicht des Christentums herrschte, interpretierten einige Autoritäten die monotheistische Formel des Shema ... als eine explizite Leugnung des Trinitätsdogmas. ... es ist eine Frage der Identität Gottes selbst. ... Teilnehmer am jüdisch-christlichen Dialog reden oft so, als ob Juden und Christen sich über Gott einig wären, aber sich über Jesus entzweiten. Sie haben vergessen, dass orthodoxe Christen wirklich glauben, dass Jesus Gott ist. (Levenson)
Was geht hier vor sich? Haben die Kommentatoren ernstliche theologische Bedenken, die erste These anzunehmen, oder gibt es andere Gründe für Brockes, Bergers, Levensons und Goldbergs kategorische Ablehnung der Stellungnahme? Lassen vielleicht emotionale Reaktionen beim auch nur flüchtigen Lesen der Stellungnahme es nicht zu, diese genau zu lesen und zu analysieren und erst dann mit einem überlegten und wohl fundierten Kommentar zu antworten? Politische Überlegungen stellen sich ein. Wer was wie und wo sagt und wie dieses von anderen wahrgenommen wird, könnte wichtiger sein als eine tatsächliche Auseinandersetzung mit den Inhalten Dabru Emets. Die Diskussion um Dabru Emet gleicht anderen Konflikten, in denen es erst in zweiter Linie auf die Inhalte ankommt und Loyalitäten mit religiösen oder politischen Gruppen, die an der Auseinandersetzung beteiligt sind, im Vordergrund stehen. Während es Kommentatoren verschiedener religiöser Gruppierungen bei der ersten These gleich schwer oder leicht fällt, ihr zuzustimmen, scheint sich die innerorthodoxe Diskussion auch auf der Ebene der Loyalitäten abzuspielen. Da die Stellungnahme von Nichtorthodoxen verfasst wurde, ist es eine gewagte politische Handlung, ihr auch nur ansatzweise zuzustimmen. Die wenigen orthodoxen Unterzeichner, die sich mit anerkennenden Kommentaren in die Debatte einschalten, sind alle in der „modernen“ Orthodoxie anzusiedeln und haben langjährige Erfahrung im Gespräch mit Christen. Jedoch sahen sich ebenso qualifizierte und im jüdisch-christlichen Gespräch erfahrene Orthodoxe wie Michael Wyschogrod, der Initiator der Stellungnahme, nicht in der Lage, Dabru Emet zu unterzeichnen. Jon Levensons Kommentar ist einer der wenigen kritischen Würdigungen Dabru Emets von orthodoxer Seite, der sich inhaltlich mit der Stellungnahme auseinandersetzt und auf wichtige Diskussionspunkte hinweist.

Interessanterweise gehen die die erste These ablehnenden Kommentare zu Dabru Emet meist sofort in eine grundsätzliche Kritik am jüdisch-christlichen Dialog über und stellen die Frage nach Sinn und Ziel oder Möglichkeit des Dialogs in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Dabei sind die negativen Argumente oft mit der Furcht verbunden, der Dialog mit Christen schade jüdischer Identität. Eine Bundestheologie steht oft im Zentrum der Dabru Emet und den Dialog befürwortenden Argumentation. Hier wird die Bundestreue von Christen einfach vorausgesetzt oder zumindest nicht als ein problematischer Aspekt christlichen Selbstverständnisses gegenüber Juden gesehen. Es gibt also eine Kontroverse zwischen denen, die mit den AutorInnen von Dabru Emet den Dialog – auch und gerade auf theologischer Ebene (was immer das heißen mag, denn auch da scheiden sich die Geister) – als notwendig und fruchtbar für das jüdische Selbstverständnis verstehen und denen, die dies als schädlich und/ oder unmöglich ansehen.


Dabru Emet und die Geschichte jüdischer Interpretationen des Christentums
Wie gelangen die Kommentatoren zu ihren gegensätzlichen Positionen und auf welche historischen jüdischen Interpretationen des Christentums nehmen sie, gegebenenfalls, Bezug? Die, die Dabru Emet positiv bewerteten und die erste These als unproblematisch ansehen, greifen wenig auf jüdische Traditionen der Verhältnisbestimmung von Judentum zu Christentum zurück. Hier steht der jüdisch-christliche Dialog der Gegenwart im Mittelpunkt und historische, besonders halachisch motivierte, Bewertungen des Christentums sind nebensächlich. Wenn doch einmal Ausflüge in die Geschichte jüdischer Interpretationen des Christentums gemacht werden, so dienen sie der Bestätigung der eigenen Position: Nach den mittelalterlichen Kommentaren von Ha-Meiri und Rabbenu Tam seien Diskussionen um shituf und avodah zarah im Zusammenhang mit Christen passé.

Diejenigen, die Dabru Emet und besonders die 1. These kritisch oder ablehnend betrachten, orientieren sich in ihrer Argumentation eher an mittelalterlichen Responsen wie denen des Ha-Meiri. Dabei weisen sie besonders auf die mittelalterlichen Verhältnisbestimmungen gemeinsamen Einschränkungen der sozialen Kontakte von Juden und Christen hin und diskutieren die Problematik des shituf im Bezug auf Juden. Während nach jüdischem Verständnis shituf für Christen in ihrer Verehrung der Trinität keine Verneinung des Monotheismus darstellt, bleibt es für sie zweifelhaft, ob dies von jüdischer Seite im Bezug auf christliche Gottesvorstellungen ebenfalls behauptet werden könne. Hier wird zwischen der Akzeptanz von Menschen und der Akzeptanz von Gottesvorstellungen unterschieden. Juden können mit Christen zusammenleben und in ökonomische Beziehungen treten, weil deutlich ist, dass Christen keinen Götzendienst ausüben. Diese Anerkennung heißt aber nicht, dass Juden die Trinität mit dem für Juden gebotenen Monotheismus des sh’ma gleichsetzen dürfen. Es ist für diese Kommentatoren Dabru Emets schwierig, der 1. These zuzustimmen, da sie diese so lesen als bezöge sie sich direkt auf Gottesvorstellungen und nicht auf die Menschen, denen diese Gottesbilder eigen sind (cf. also Novak 1984, 132).

Argumentieren Kommentatoren der Stellungnahme ohne auf halachische Vorläufer der Verhältnisbestimmung zurückzugreifen, wird sowohl von Befürwortern als auch von Kritikern deutlich gemacht, dass der jüdisch-christliche Dialog der Gegenwart auf einer anderen Ebene liegt als der, die in den mittelalterlichen Responsen vorausgesetzt wird. Wird Dialog abgelehnt oder befürwortet ist also genau zu analysieren, was dort befürwortet oder abgelehnt wird.

Zunächst ein Blick auf die halachische Argumentation. Im Mittelalter existierten aschkenasische jüdische Gemeinden in einer mehrheitlich christianisierten Gesellschaft, sefardische Gemeinden hingegen meist in einer mehrheitlich muslimischen Gesellschaft. Vertragliche Regelungen mit der jeweiligen Obrigkeit garantierten die rechtmäßige Existenz der Gemeinde in ihrem nichtjüdischen Umfeld und erlaubten gleichzeitig eine weitgehend unabhängige jüdische Gerichtsbarkeit, die das Leben innerhalb der Gemeinde regelte. So wurde jüdisches Leben von der Halacha, dem jüdischen Gesetz, begründet in der Tora, geregelt, und erfasste alle Bereiche des Zusammenlebens. Rabbiner fungierten in erster Linie als Juristen. Ihre Rechtssprechungen sind u.a. in der so genannten Responsenliteratur gesammelt, die Antworten zu konkreten juristischen Problemen formuliert und so z.T. zur Grundlage und Präzedenz nachfolgender Rechtssprechung wurde. Quellen jüdischer Rechtssprechung sind in erster Linie Mischna und Gemara, gesammelt und kommentiert im (babylonischen) Talmud. Innerhalb der Responsenliteratur finden sich immer wieder Fragen und Antworten (she’elot u’teshuvot) zu jüdischen Kontakten mit Nichtjuden. Diese Kontakte waren oft wirtschaftlicher Art und betrafen die Art und Weise von Vertragsabschlüssen. In einigen dieser Responsen finden sich Aussagen zur Verhältnisbestimmung von Judentum zu Christentum, die z.T. zur Grundlage späterer jüdischer Interpretationen des Christentums wurden und bis in die Kritiken zu Dabru Emet Einfluss haben.

Die Basis, auf der mittelalterliche Responsen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden beurteilen, sind meist die sieben noachidischen Gebote. Traditionell teilt das Judentum die Menschheit in zwei Denkkategorien ein, die aus biblischen Texten erwachsen: Juden und Nichtjuden, Gojim. Aus dieser Zweiteilung erwachsen Folgen für eine Verhältnisbestimmung, die theologische Bedeutung erhalten, theologische Bedeutung in erster Linie in einer Gesellschaft, in der keine Unterscheidung zwischen säkular und heilig stattfindet, sondern alle Mitglieder der Gesellschaft über die Zugehörigkeit zu einer Glaubens- und Lebensgemeinschaft definiert werden, wie z.B. in Europa vor der Aufklärung. Wenn die Tora den Juden gegeben ist, was für ein Verhältnis haben die nichtjüdischen Völker mit Gott und woran können Juden erkennen, dass ein solches Verhältnis besteht? Dies ist eine jüdisch-theologische Grundfrage, die einerseits nach dem eigenen Ursprung und dem der Völker fragt und andererseits in der jeweiligen Gegenwart versucht, das Verhältnis von Juden zu Nichtjuden zu interpretieren. In letzterem Falle werden Kriterien entwickelt, die es Juden erlauben, das Gottesverhältnis von Nichtjuden zu erkennen und zu würdigen. Diese Kriterien sind die noachidischen Gebote, die in der Zeit der Entstehung des Talmud von den Rabbinen entwickelt wurden.
Der Noachide (wörtlich, “Sohn Noachs“), auf den sich diese Gebote beziehen, bezeichnet sowohl den Nichtjuden, der dem gegenwärtigen Judentum begegnet, als auch die Menschheit vor der Schenkung der Tora, die Israel von den anderen Völkern dieser Welt trennt. (Novak, 1989, 26)
Es kann hier nicht auf den Ursprung des Konzepts der Noachiden eingegangen werden. Nur soweit, es ist eine Denkkategorie, die sich auf biblische und nachbiblische Definitionen des Nichtjuden in jüdischer Gesellschaft (des ger toshab) bezieht, sowohl im vorexilischen unabhängigen Israel als auch in der nachexilischen Diaspora, in der dieses Konzept in seiner heute bekannten Form weitgehend entwickelt wurde.8) Nach den sieben noachidischen Geboten wird Völkern, die (1) eine unabhängige Gerichtsbarkeit haben, (2) keinen Götzen dienen, (3) Gott nicht lästern, (4) Unzucht verbieten, (5-6) Mord und Diebstahl kriminalisieren und (7) kein Fleisch von lebendigen Tiere essen, eine vom Judentum erkennbare Moralität zugeschrieben, welche “nicht im Widerspruch zum Judentum steht, jedoch nicht identisch mit ihm ist“ (Novak, 1984, xvii). Die noachidischen Gebote sind demnach „pragmatisch, d.h. sie versuchen einen modus vivendi et operandi für das Judentum und die Juden, die in einer nichtjüdischen Welt leben, herzustellen“ (Novak, 1984, xvii). Danach lassen sich die Völker in zwei Kategorien einteilen: Erstens die, mit denen Beziehungen erlaubt sind, und zweitens die, mit denen Beziehungen untersagt sind. Beziehungen meinen hier in erster Linie ökonomische Beziehungen, die das Überleben des jüdischen Volkes in nichtjüdischer Umwelt garantieren. Weitgehend ausgeschlossen sind soziale Beziehungen, da sie durch die Gefahr der “Mischehe“ der Erhaltung einer separaten jüdischen Identität und Gemeinschaft entgegenwirken. Soziale Kontrolle und Notwendigkeit diktierten in erster Linie die Verhältnisbestimmung von Juden zu ihrer nichtjüdischen Umwelt.

Gleichzeitig zur positiven Bewertung des Christentums, die Handelsbeziehungen erlaubte, entwickelte sich auch jüdische polemische Literatur, die die heilsgeschichtliche Wirksamkeit des Christentums lächerlich zu machen suchte und verleumdete. Die Toledot Yeshu und Sefer Hasidim, entstanden in Europa im 12. und 13. Jahrhundert, stellten der Diskussion der Trinität in der Responsenliteratur eine Sicht des Christentums als Götzendienst entgegen (vgl. Katz 41975, 93ff.), die jegliche Gemeinsamkeiten zu unterlaufen suchte oder sich in heilsgeschichtlicher Rivalität mit dem Judentum befand. Die gegensätzliche Einschätzung des Christentums in halachischer und polemischer Literatur weist auf eine andere Dimension mittelalterlicher jüdisch-christlicher Beziehungen hin: Weit entfernt von den Dialogen der Gegenwart, setzen mittelalterliche Einschätzungen des Verhältnisses, eine christliche Macht voraus, die während der Kreuzzüge mordend durch die Lande zog und, in weniger lebensbedrohlichen Situationen, jüdisches Leben in Disputationen anfocht und heilige Bücher verbrannte.

Christen und Muslime sind die Gruppen, deren Glauben und Weltdeutungen die Gesellschaften dominierten, in denen Juden über Jahrhunderte als Minderheit lebten. Juden mussten daher Christen und Muslime anhand ihres Glaubens und ihrer Praxis so definieren, dass Juden ökonomischer und politischer Umgang mit ihnen erlaubt war und diese Beziehungen somit das Überleben der jüdischen Gemeinden in nichtjüdischer Umwelt garantieren konnten. In Europa konzentrierte sich die Diskussion der noachidischen Gebote auf die Anerkennung des Christentums als monotheistische Gemeinschaft. David Novak fasst die jüdische Bewertung des Christentums durch die noachidischen Gebote wie folgt zusammen:
Als das Christentum eine heterodoxe jüdische Sekte war, strengten sich jüdische Theologen an, die christliche Behauptung eines reinen Monotheismus anzuzweifeln. Lange nach der Abspaltung vom Judentum, als eine grundsätzlich neue soziale Beziehung zwischen Juden und Christen existierte, bemühten sich jüdische Theologen ebenso sehr zu zeigen, dass die christliche Vorstellung eines Vermittlers, auch wenn dieser als Teil Gottes gesehen wird, sich völlig im Einklang mit dem Monotheismus befindet und für Juden nur deshalb verboten sei, weil sie bereits durch den Sinaibund gebunden sind. (Novak, 1984, xviii)
Die Verhältnisbestimmung zum Christentum aus halachischer Sicht folgt also zwei Kriterien. Das allgemeine Interesse an einer Verhältnisbestimmung ist das der Legitimierung der anderen Religionsgemeinschaft darüber, wie sich mehrere Offenbarungen des einen Gottes zueinander verhalten. Ein spezifisches Interesse ist das Überleben der jüdischen Gemeinschaft in einer christlichen Umwelt, und die Konsequenzen, die aus einer Legitimierung des Christentums über die noachidischen Gebote erwachsen, sind grundsätzlich praktischer Art, ökonomische und politische Beziehungen betreffend.

Die noachidischen Gebote sind in der Lage, die Möglichkeiten des Zusammenlebens von Juden und Christen in einer Gesellschaft zu bestimmen, die Menschen unter dem Gesichtspunkt der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensgemeinschaft kategorisiert. Diejenigen, die Dabru Emet mit Bezug auf mittelalterliche Interpretationen des Christentums in der Responsenliteratur ablehnen, scheinen auch dem Argumentationsrahmen dieser Responsen zuzustimmen. So lehnen sie es ab, das Christentum außerhalb des engen halachischen Kontexts des Mittelalters zu bewerten. Die rechtliche Gleichstellung von Glaubens- und Kulturgemeinschaften in der modernen Säkulargesellschaft wird somit bewusst aus der Diskussion ausgeblendet. Der traditionelle, ökonomisch (und minimal auch sozial) definierte Rahmen christlich-jüdischer Beziehungen scheint in diesen Kritiken erhalten zu bleiben und jeglicher Kontakt mit Christen wird auf das Notwendige, die jüdische Gemeinschaft erhaltende Minimum, beschränkt.

Andere Kommentatoren Dabru Emets sehen die mittelalterlichen Kategorien und damit die noachidischen Gebote als weniger gut geeignet für eine Verhältnisbestimmung von Juden zu Christen in einer weitgehend säkularen Gesellschaft, in der die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe weitgehend von der persönlichen Entscheidung des Einzelnen abhängig ist und nicht zu einer allgemein anerkannten Gesellschaftsordnung gehört. Somit traten die noachidischen Gebote bereits mit der Haskala – der jüdischen Aufklärung im 18. und 19. Jahrhundert – in den Hintergrund und wurden durch philosophisch motivierte Verständnisse des Christentums ersetzt.

Nun wurde das Christentum Teil der theologischen Diskussion im aufklärerischen Judentum und trat damit aus der meist ökonomisch bestimmten Debatte heraus. War die ökonomische Diskussion der Gesetzmäßigkeit oder wenigstens Toleranz von Geschäftsbeziehungen zu Nichtjuden Teil des konkreten, materiellen Überlebens der jüdischen Gemeinden in nicht-jüdischer Umwelt, dreht sich die theologische Diskussion seit dem 19. Jahrhundert um das Überleben des Judentums als Religionsgemeinschaft in einer säkularen Gesellschaft, deren Mitglieder mehrheitlich christlichen Gemeinden angehören. Damit nimmt die Verhältnisbestimmung von Juden zu Nichtjuden nun einen größeren, auch teilweise zentralen Raum in jüdisch-theologischer Selbstdefinition ein und entwickelt dabei dem Christentum vergleichbare Strukturen.

Ich greife ein Beispiel jüdischer Verhältnisbestimmung mit dem Christentum heraus. Moses Mendelssohns Briefwechsel im Jahre 1773 mit Rabbiner Jacob Emden diskutierte die noachidischen Gebote im Zusammenhang mit der Idee des Naturrechts.9) Emden vertritt die mittelalterliche aschkenasische Interpretation der noachidischen Gebote, die wir gerade beschrieben haben. Mendelssohn zweifelte nicht am göttlichen Ursprung der noachidischen Gebote, der allein es erlaubt, sie als Offenbarung neben der Tora zu verstehen. Die Frage, die Mendelssohn bewegte und die Emden nicht beantwortete, ist die der Erkennbarkeit der Offenbarung.
Mendelssohns Frage geht aus dem mit Descartes beginnenden modernen philosophischen Interesse an Epistemologie hervor, nämlich aus der Theorie des Wissens. … Mendelssohn hinterfragt, ob man die Menschheit für die Einhaltung von göttlichen Geboten verantwortlich machen kann, wenn die Mehrheit der Menschen nichts von dieser Offenbarung wissen. (Novak, 1984, 371)
David Novak folgert, dass Mendelssohn die Diskussion um die noachidischen Gebote wieder auf ihren Ursprung zurückführt, nämlich auf die Frage, worauf sich die Moralität der Menschen gründet und wie sie philosophisch erfassbar ist (vgl. Novak, 1984, 372). Die noachidischen Gebote teilen im aschkenasischen Raum die Menschheit vorrangig in Juden und Christen, im sefardischen Raum zusätzlich in Muslime ein. Die Moralität aller drei Gemeinschaften liegt in der Offenbarung der Hebräischen Bibel/ des Alten Testaments oder in der gemeinsamen Herkunft vom Stammvater Abraham begründet und wird unter dem Gesichtspunkt der Heilsgeschichte bewertet. Mendelssohns epistemologische Frage spielt in diesem Szenario kaum eine Rolle, d.h. sie stellt sich nur, wenn – wie bei von Aristoteles beeinflussten Philosophen (vgl. Maimonides), die im aschkenasischen Raum nur unzureichend rezipiert wurden – die Vernunft unabhängig von einer geschichtlichen Offenbarung gedacht und damit eine Moralität postuliert wird, die außerhalb konkreter Glaubensgemeinschaften erkennbar ist und die Menschheit eint (vgl. Novak, 1984, 372f.). Mendelssohns Antwort auf sein Problem versteht die noachidischen Gebote als Naturrecht, das allen Menschen durch die allen gegebene Vernunft gleichermaßen logisch zugänglich ist. Dabei sieht Mendelssohn Gott als metaphysisch notwendig, als die Quelle der natürlichen Vernunft. Die spezifisch jüdische und christliche Offenbarung der Tora und Christus sind auf diese beiden Gemeinschaften und ihre historische Bedingtheit zugeschnitten. Während sie nicht im Widerspruch zum Naturrecht stehen, hat ihre Besonderheit nur innerhalb des Fortgangs der Geschichte Bedeutung und wird letztlich dem Naturrecht untergeordnet (vgl. Novak, 1984, 376).

Das jüdische Interesse am Christentum, das seit der Haskala in den Vordergrund tritt, ist ein philosophisch-heilsgeschichtliches und auch spirituell-emotionales, wie es z.B. bei Moses Mendelssohn, Hermann Cohen, Franz Rosenzweig und Martin Buber, Abraham Heschel und Emil Fackenheim zum Ausdruck kommt. Das Christentum als die “andere“ Religion im Gegenüber zum Judentum kann im Dialog Juden eine neue Dimension der eigenen Wahrheit eröffnen, und ein geistlicher Austausch zwischen Individuen kann das eigene Glaubensleben bereichern. Damit wird allerdings das Gespräch von Juden und Christen auf die Glaubensebene festgelegt und hat, in einer liberalen Gesellschaft, kaum mehr praktische Bedeutung.

Dem gegenüber stehen Vertreter der (modernen) Orthodoxie, die eine Beschränkung des Austauschs mit dem Christentum auf die sozial-politsche Ebene vertreten: Juden und Christen können an der Veränderung der Gesellschaft zusammenarbeiten, da sie Konzepte sozialer Gerechtigkeit teilen und ähnliche Anliegen politisch vertreten. Darüber hinaus ist Dialog über Dinge des Glaubens, d.h. den Religionsgemeinschaften eigenen Dogmen, unnötig, wenn nicht gar gefährlich. In diesen Argumentationen wird ein theologischer Dialog mit Bezug auf Rav Joseph Soloveitchik abgelehnt. Jedoch finden sich auch Stimmen, die sich in ihrer Befürwortung des Dialogs auf den Rav berufen.10) Im Vordergrund der inner-orthodoxen Diskussionen stehen Soloveitchiks Vorbehalte gegen den beginnenden jüdisch-christlichen Dialog, die er in Vorträgen wie “Lonely Man of Faith“ und “Confrontation“ in den frühen 60er Jahren begründete.11) Diese Ausführungen richten sich sowohl an Juden wie auch an Christen und haben unterschiedliche Bewertungen erhalten. Während einige eine vollständige Ablehnung des Gesprächs mit Christen hören, finden sich andere Interpretationen, die eine Warnung vor einer vorschnellen Vergleichbarkeit von Glaubenssätzen hören, nicht aber eine vollständige Verneinung der Möglichkeit eines fruchtbaren Austauschs zwischen Christen und Juden.12) Orthodoxe Kritiker Dabru Emets, wie Prof. David Berger, warnen daher mit Bezug auf Soloveitchik vor solchen Stellungnahmen, die Einigkeit vor tieferes Verständnis von Unterschieden und Unvereinbarkeiten stellen.13) Die Kommentatoren, die Dabru Emet als ein Dokument der Gleichmacherei von Judentum und Christentum und als eine verharmlosende Darstellung jüdisch-christlicher Geschichte interpretieren, lehnen es als zu gefährlich für die Zukunft der jüdischen Gemeinde ab. Zu gefährlich, da es die Unterschiede zwischen Judentum und Christentum so weit zu reduzieren scheint, dass weder der Eheschließung zwischen Juden und Christen noch der Konversion von Juden zum Christentum theologisch etwas im Wege zu stehen scheint. Dies wird angesichts der schwindenden Zahl jüdischer Gemeinden in der Diaspora der Vereinigten Staaten und Europa als besonders bedrohlich angesehen. Rabbiner Irving Greenberg, orthodox, ehemaliger Vorsitzender des United States Holocaust Memorial Council, fasst diese Haltung wie folgt zusammen:
Diese Stellungnahme wird von Orthodoxen und anderen traditionellen Juden, die den theologischen Dialog ablehnen und die jüdische Ablehnung christlicher Behauptungen in der Vergangenheit internalisiert haben, Widerstand erfahren. Ebenfalls ablehnen werden sie viele säkulare Juden, deren jüdisches Restgedächtnis eine Kurzschlussreaktion der Angst und der Wut gegen das Christentum auslöst. (Greenberg)
Ablehnende Kommentare scheinen sich vor einem “Ausverkauf“ des Judentums ans Christentum zu fürchten. Sobald die Barrieren, die historisch zwischen Judentum und Christentum gewachsen sind und von beiden Seiten gepflegt wurden, kritisch analysiert und diskutiert werden, läuten die Alarmglocken. Man wittert Gefahr für den Fortbestand des Judentums. Dabei richtet sich die Anklage häufig gegen das nichtorthodoxe Judentum. Orthodoxe unterstellen ihren nichtorthodoxen Kollegen, dass diese „offene Grenzen“ zwischen Judentum und Christentum als politischen Gewinn für das nichtorthodoxe Judentum werten. Je offener, je besser, so die orthodoxe Anklage, da die nichtorthodoxen Gemeinden nach ihrer Ansicht einen erheblichen Anteil an „Nichtjuden“ umfassen.14) Mit „Nichtjuden“ können in diesem Zusammenhang nichtjüdische (Ehe-)Partner gemeint sein, oder zum Judentum Übergetretene, die diesen Schritt in nichtorthodoxen Gemeinden vollzogen haben, sowie deren Kinder, wenn die Mutter entweder nicht oder nichtorthodox konvertiert ist (vgl. Diskussionen in Deutschland, in denen Paul Spiegel behauptete, dass viele nichtorthodoxe Gemeinden nicht von Juden geleitet würden). Die Diskussion um Dabru Emet, die die Konfrontation zwischen Orthodoxen und Nichtorthodoxen auf das Thema des Gesprächs mit Christen zuspitzt, berührt auch das Verständnis jüdischer Identität. Wurde das christlich-jüdische Gespräch bisher als eine Art „jüdische Lebensversicherung“ verstanden, hat Dabru Emet diese Motivation zum Gespräch in den Augen einiger Gegner radikal in Frage gestellt. Die kategorisch ablehnenden Kommentare können also auch als tiefe Verunsicherung der Gesprächsteilnehmer gelesen werden. Die unzureichenden Argumente und das selektive Lesen der Stellungnahme, die dargestellte Zusammenhänge entweder übersehen oder missverstehen, sind ein Hinweis darauf. Obwohl die grobe Trennung, wie wir gesehen haben, zwischen nichtorthodoxer Zustimmung und orthodoxer Ablehnung zutrifft, ist die Situation bei genauerem Hinsehen komplizierter. Während Reformrabbiner Nicholas de Lange die Stellungnahme unterzeichnet hat, „weil er normalen Juden versichern wollte, dass die alten Schauergeschichten in die Geschichtsbücher gehören und das Christentum keine Gefahr für das Judentum ist“ (de Lange in Frymer-Kensky),15) zeigt die Auseinandersetzung deutlich, wie sehr Dabru Emet gerade diese Angst wieder in den Vordergrund stellt. Wie sehr diese Angst mit jüdischem Selbstverständnis verbunden ist, wird in der Diskussion der Stellungnahme ebenfalls deutlich. Levenson erkennt in seinem Beitrag, dass, sobald das Feindbild, gegenüber dem sich die eigene Identität herausgebildet hat, verschwindet, wird versucht diese Identität durch ein neues Feindbild zu stärken.16)

Es steht also, bei allen Beiträgen, positiv und negativ, auch immer die Frage nach der jüdischen Identität und ihrer Quellen im Raum.


Schluss
Die Diskussion um Dabru Emet zeigt, dass eine theologische Erneuerung des jüdischen Verständnisses des Christentums jüdisches Selbstverständnis verunsichert. Eine neue Orientierung jüdischer Identität, die auf die Herausforderungen des Gesprächs mit Christen eingeht, ist ein Anliegen der VerfasserInnen und Unterzeichner. Juden müssen sich Gedanken über ihre Rolle im christlich-jüdischen Gespräch machen und diese, gegebenenfalls, modifizieren. Der Rückzug auf eine Begrenzung des Gesprächs auf praktische Dinge greift zu kurz, wie David Rosen erkannt hat:
Der Prophet Maleachi (3,16) weist darauf hin, dass selbst wenn Glaubende nur miteinander reden, dies bereits theologische Konsequenzen hat. Es ist künstlich und einfach falsch, anzunehmen, dass eine Auseinandersetzung mit humanitären Themen nichts mit „Doktrinen, Dogmen oder Ritualen unserer Religion zu tun hat.“ (Rosen)
Es geht jedoch auch um die Methode der jüdischen Selbstdefinition in Dabru Emet. Mehrere orthodoxe Kommentatoren der Stellungnahme vermissen eindeutig jüdische Terminologie. Die hebräische Überschrift und Bezeichnung der Bibel als Tanach sind die einzigen Hinweise auf jüdischen Sprachgebrauch. Vermisst wurden vor allem jüdische theologische Konzepte wie Tora, Halacha und Mitzvot, die, so orthodoxe Kommentare, einen wesentlich eindeutigeren jüdischen Kontext für Dabru Emet gesetzt hätten.17) Jüdisches Selbstverständnis ohne jüdische Konzepte zu erklären ist paradox und verstärkt die Befürchtung der „Verwässerung“ des Judentums und jüdischen Anbiederns bei Christen.18)

Das Verhältnis des Judentums zum Christentum muss auch Beziehungen des Judentums zu anderen Religionen mit bedenken. Nach Ansicht Steven Fines bevorzugt Dabru Emet das Christentum theologisch so sehr, dass ein Dialog mit anderen Religionen entweder völlig in den Hintergrund tritt oder im Schatten jüdischer Zustimmung zu christlicher Mission an nichtjüdischen Nichtchristen steht.
Dabru Emet zieht das Christentum anderen nichtjüdischen Religionen vor ... Christliche Proselytenmacherei unter Hindus, Sikhs und anderen Nichtchristen wird damit stillschweigend unterstützt. Damit stimmt die Stellungnahme scheinbar nicht nur christlicher Mission in der Gegenwart offiziell zu, sondern weitet diese Zustimmung auch auf christliche Missionspraktiken in der Vergangenheit aus. Nach Ansicht der Stellungnahme sind Juden die einzigen, die sich außerhalb der Reichweite christlicher Missionare befinden. (Fine in Frymer-Kensky)
Dabru Emet fordert, „dass Juden ihr Verständnis des Christentums mit Bezug auf die christliche Neuinterpretation des Judentums überdenken sollen“ (Berger). David Berger findet „diese Neigung zu solch einer theologischen Gegenseitigkeit gefährlich.“ Die Diskussion um Dabru Emet zeigt, wie sehr diese Gefahr wahrgenommen wird. Dabei verlieren viele Diskussionsteilnehmer die Übersicht über historische jüdische Würdigungen des Christentums, die nicht alle auf vollkommene Abschottung gegen mögliche Gefahren bedacht sind, sondern sehr wohl auch positive theologische Würdigungen einschließen. David Rosen weist darauf hin, dass
[Rabbiner Jacob] Emden [der führende orthodoxe Rabbiner des 18. Jahrhunderts in Europa] innerhalb der rabbinischen Autoritäten in dieser Hinsicht wohl am weitesten ging. Zusätzlich zur Anerkennung der Verpflichtung Jesu zur Tora und seiner Sendung, diese Verpflichtung innerhalb des jüdischen Volkes zu stärken, würdigt er auch die Tatsache, dass durch die Botschaft des Wirkens Jesu das Christentum zur weitgehenden Ausschaltung des Götzendienstes beigetragen hat. Emden geht jedoch noch weiter und beschreibt das Christentum in der Sprache der Mischna in Pirkei Avot als eine „knessiah leshem shamayim“, d.h. als eine Versammlung um des Himmels willen.(Rosen)
Die Diskussion um Dabru Emet hat sich an Definitionen jüdischer Identität und Integrität festgebissen. Weitere Auseinandersetzungen werden die Streitpunkte differenzierter benennen. Auf innerjüdischem Gebiet wäre es ein neuer Schritt, die Frage einer jüdischen Theologie des Christentums zumindest in einer Diskussion wach zu halten, die auch die orthodoxen Teilnehmer an diesen Gesprächen und Begegnungen mit Christen einschließt. Dabru Emet ist hier öffentlich vorgeprescht, ohne auf die Rückmeldung aus allen Kreisen der jüdischen Gemeinde zu warten und dann erneut zu diskutieren. Auf der einen Seite ist eine solche gewagte öffentliche Stellungnahme zu einem solch kontroversen Thema hilfreich, um die innerjüdische Diskussion anzuheizen, dieses Thema gewissermaßen ins Zentrum jüdischen Denkens in der Gegenwart zu rücken. Auf der anderen Seite kann ein solch kontroverses Dokument genau das Gegenteil bewirken und durch Ablehnung die Diskussion totschweigen. Dass einige Vertreter des orthodoxen Judentums die Stellungnahme unterzeichnet haben, hat nicht nur die Debatte angeregt, sondern ist auch eine Garantie für die Zukunft der innerjüdischen Auseinandersetzung mit Dabru Emet und damit mit dem Verhältnis des Christentums zum Judentum. Denn David Rosen stellt richtig fest:
Eine ernsthafte jüdische Theologie des Christentums muss selbstverständlich über den einfachen Respekt der “Treue der Christen gegenüber ihrer Offenbarung“ hinausgehen; eine solche Theologie muss ein Verständnis der Bedeutung dieser Offenbarung für den Plan Gottes für die Menschheit zeigen. (Rosen)

Anmerkungen
1 In Deutschland wurde Dabru Emet am 12.12.2000 in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht.
2 Die folgenden Zitate folgen der deutschen Übersetzung in der Frankfurter Rundschau 12.12.2000.
3 Für die weiteren Ausführungen in diesem Abschnitt vgl. Signer1.
4 „Dabru Emet is a response to Christian ’Teshuva’ or ’metanoia’ about Judaism. Jews can only have dialogue with those Christians who are firmly convinced that God wants the covenant made with the Jewish people to exist until the end of time. Jews can only have dialogue with those Christians who affirm the existence of the Jewish people by refraining from direct proselytizing.“ (Signer1)
5 Christen haben ebenfalls auf die Stellungnahme reagiert, doch konzentriert sich dieser Vortrag auf die inner-jüdische Kontroverse. „Christian excitement in effect related firstly to the fact that this public statement recognized Christians and Christianity today as not being the same as they were in the past; that Christianity today is no longer principally a threat to Judaism, but in fact is substantially an ally. It also related to the fact that the statement recognizes a Jewish interest ... in a relationship of theological understanding between the two. In effect Dabru Emet represents a Jewish willingness not to forget, but to put behind us the unique tragic past that bedevilled the Jewish-Christian relationship and to look forward to a unique fraternal theological interaction in the future.“ (Rosen)
6 Kampling/ Weinrich (Hrsg), 2003; Discherl/ Trutwin (Hrsg), 2004.
7 Die Bezeichnung Gottes als Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist keine geistige, sondern eine reale praktische, mit einer ethnischen Bindung. Diese Bindung ist in der jüdischen Bibel grundgelegt und lässt sich aus meiner Sicht weder in eine abstrakte Bindung umdeuten noch lässt sie sich universalisieren. (Brocke)
8 Eine detaillierte Studie zum Thema ist (Novak, 1984).
9 Für die folgende Diskussion vgl. (Novak, 1984, Kapitel 13)
10 Vgl. z.B. Rynhold 2003 und http://www.bc.edu/research/cjl/meta-elements/texts/center/conferences/soloveitchik/ (3.6.2005).
11 Soloveitchik, Joseph B., “Confrontation”, Tradition 6:2 (1964), 5-29 und Soloveitchik, Joseph B., The Lonely Man of Faith (New Jersey: Jason Aronson Inc., 1965).
12 Vgl. die Beiträge in http://www.bc.edu/research/cjl/meta-elements/texts/center/conferences/soloveitchik/ (3.6.2005).
13 Vgl. dazu auch Batnitzky 1999.
14 Vgl.: „Is it mere coincidence that the recent rapprochement between Jews and Christians has been accompanied by soaring rates of intermarriage, and by a striking acceptance of this demographic calamity on the part of many Jewish organizations? If, as we are now told, the commonalities between the two religions really are so basic, and so encompassing, why indeed should intermarriage, or for that matter conversion to Christianity, be resisted as strenuously as their tradition has long enjoined Jews to do? …for the authors of Dabru Emet to assert that their version of this truth poses no hazards to Jewish practice and identity is not just wishful thinking; it is whistling in the dark.“ (Levenson)
15 “because I wanted to reassure ordinary Jews that the old horror stories can be relegated to the history books, and that Christianity does not pose a threat to Judaism.“
16 Vgl.: „communities that have largely overcome their animosity and moved to mutual respect, as Jews and Christians have done to a significant extent in the United States, must look elsewhere for such reinforcements to group identity as existed under the old and more contentious arrangement. Under any conditions, the risks are higher for the "small"er community
17 that is, the Jews. They are especially high if Jews and Christians really do stand in the relationship described by Dabru Emet. For the thrust of this statement is to make the two communities look as alike as two peas in a single religious pod. … Although the statement mentions disagreements and asks that they be respected, it is hard to come away from it without feeling that the nearly two thousand years of Jewish-Christian disputation were based on little more than the narcissism of "small" differences.“ (Levenson)
18 Vgl.: “Even more amazing, in a statement written by Jewish theologians, is the absence of the words law and commandment themselves.“ (Levenson)
19 Vgl. auch: „Beginnen wir mit den Autoren; sie definieren sich selbst als Theologen. Wer sind sie: Rabbiner, jüdische Gelehrte oder gebildete Mitglieder einer bestimmten Gemeinde? Sind sie Repräsentanten oder selbst ernannte interessierte Partner? Keine der oben erwähnten Kategorien wäre falsch. Jede würde die Realität innerhalb der jüdischen Strukturen besser reflektieren, jede wäre in der Diskussion repräsentativer, aber sie wählen, möglicherweise nicht bewusst, einen autoritativen religiösen christlichen Titel. Sie wählen eine passende Form, um ihre Präsentation zu erleichtern. Der beschreibende Titel eines solchen Theologen, nämlich einer religiös interessierten, theologisch gelehrten Person ist eine debattierte Frage in der jüdischen Welt. Dies ist ganz gewiss nicht die gebräuchlichste Kategorie im Judentum; gleichwohl scheint sie eine Atmosphäre widerzuspiegeln, in welcher das ganze Dokument geschrieben worden ist, nämlich in dem Bemühen, Unterschiede zu überbrücken und eine harmonische Koexistenz zu schaffen. Aber die Harmonie wird durch eine gemeinhin christliche Terminologie gewonnen und sie impliziert eine christliche Struktur, die in sich selbst der jüdischen Denkweise fremd ist.“ (Safrai in Kampling, 67)

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http://www.icjs.org/what/njsp/reactions.html (08.06.2002) für eine Auswahl christlicher Reaktionen auf Dabru Emet

Hannah Holtschneider ist Lecturer for Modern Judaism an der School of Divinity, Universität Edinburgh. Sie hielt diesen Vortrag bei einem Colloquium zu Dabru Emet am Zentrum für jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg.

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