Hoff, Gregor Maria „REDET WAHRHEIT“ – WELCHE WAHRHEIT? THEOLOGISCHE STOLPERSTEINE IN „DABRU EMET“

Ich werde im Folgenden einige theologische Stolpersteine in dem so präzisen und zugleich bewegenden Text von „Dabru Emet“ (DE) markieren. Dabei möchte ich meine Überlegungen auch dort noch als vorsichtige Fragen verstanden wissen, wo sie nicht ausdrücklich diese Form annehmen.
Ich beginne damit, einige Stolpersteine zu benennen:
In Nr. 1 heißt es, dass „wir uns als jüdische Theologen darüber (freuen - GMH), dass Abermillionen von Menschen durch das Christentum in eine Beziehung zum Gott Israels getreten sind.“ Meine naive Frage lautet: Warum eigentlich? Was ist der Hintergrund? Wenn man sich über einen solchen Kontakt freut, dann doch, weil damit etwas Bedeutsames geschieht – und zwar etwas, das religiös Bedeutung hat.
In diesem Zusammenhang fällt der mehrfache Bezug von DE auf die Erlösung auf.1) Der Bezug zum Gott Israels hat eine soteriologische Qualität, die freilich nicht näher qualifiziert wird. Wodurch wird man erlöst? Die abschließend zitierte Völkerwallfahrt von Jes 2,2-3 gibt hier eine Richtung an: Es geht um die Ankunft – die Herstellung (Nr. 8) – des Königreichs Gottes. Das bedeutet aber, dass sich soteriologisch relevant der Gott Israels am Ende der Zeiten als der wahre Gott – im Gegensatz zu den auch von DE angesprochenen Götzen (Nr. 4) – erweisen wird.

Die Frage nach Wahrheit
In diesem Zusammenhang fällt auf, dass das Konzept “wahr“ bzw. „Wahrheit“ nur einmal in DE gebraucht wird: in der Überschrift. Zugleich spielt die Wahrheitsfrage eine wichtige, aber unterbestimmte Rolle. Das hat – mindestens auf den ersten Blick – gute Gründe. Die Wahrheitsfrage ist religionspolitisch immer wieder gewaltsam aufgetreten. Zugleich scheint eine Auseinandersetzung mit starken Wahrheitsansprüchen keine besonders stabile Basis für einen Dialog zu versprechen, wie ihn DE vor Augen hat. Damit bleibt allerdings etwas ungesagt – und das hat Konsequenzen. Es erscheint nämlich als Problem gerade deshalb, weil man sich ihm nicht offen stellt.
Die erkenntnistheoretische Frage taucht dementsprechend auch an weiteren Punkten des Dokuments auf. So spricht DE von „ähnlichen Lehren“ (Nr. 2) in Judentum und Christentum. Zugleich heißt es: „Der nach menschlichem Ermessen unüberwindbare Unterschied zwischen Juden und Christen wird nicht eher ausgeräumt werden, bis Gott die gesamte Welt erlösen wird, wie es die Schrift prophezeit.“ (Nr. 6) Mit anhaltender theologischer Naivität weitergefragt: Also ist die Differenz nicht gewollt? Auf welcher Ebene liegt sie? Theologisch? Soteriologisch? Offensichtlich muss man die Wahrheitsfrage in diesem Zusammenhang ausblenden, weil sie geschichtlich nicht beantwortbar ist und einen eschatologischen Überhang sowohl verlangt wie aushält. Damit wird das zugrunde liegende theologische Wahrheitskonzept erkenntnistheoretisch als Interpretationsprozess greifbar.
Hier ergeben sich Anschlussfragen im Blick auf starke Wahrheitsansprüche, wie sie in unterschiedlichen jüdischen wie christlichen Traditionen und Gruppen vertreten werden. Die Kompatibilität und die Rezeptionsmöglichkeiten von DE werden von daher einer Probe zu unterziehen sein.
„Wahrheitsansprüche“ treten auch in DE z.T. unvermittelt auf, etwa wenn von einer „unangebrachten Vermischung von Judentum und Christentum“ die Rede ist (Nr. 7). Das kann letztlich nur bedeuten, dass die bleibende Differenz von jüdischem und christlichem Bekenntnis zu Gott einen eigenen Wahrheitswert hat – aber welchen?

Bleibende Differenz der Rede von Gott
Meine These entwickelt sich im Anschluss an die zentrale „offenbarungstheologische“ Nr. 2: Im bleibenden Unterschied der Rede von Gott werden unterschiedliche Modi einer entsprechenden Gotteserfahrung wahrheits- und heilsrelevant aufgefasst und bewahrt.
Wenn die Tora auch christlich Offenbarung Gottes bleibt, dann weist ihre jüdische Interpretation in eine bestimmte Richtung. Christlich wird die Offenbarung Gottes an einen Menschen gebunden, in dem sich Gott als Liebe offenbart. Hier gewinnt eine Unmittelbarkeit im Gottesbezug Gestalt, die in der späteren christologischen Theoriebildung äußerste Anstrengungen fordert, das austarierte Verhältnis von Verborgenheit und Offenbarung, von Nähe und Entzug, von Transzendenz und Immanenz dogmatisch zu entwickeln. Diese Gottesinterpretation wird nur möglich auf der Basis jener Grammatik, die das jüdische Sprechen von Gott vorgibt: In dieser bleibenden Differenz eines Sprechens von Gott liegt die eigentliche Wahrheit der Gottrede. Man muss von Gott sprechen in der Differenz der Sprachen, weil Gott in seiner Erfahrbarkeit als Anspruch (Tora, Wortgestalt der Offenbarung) die bleibende Differenz zu allen Konzepten von ihm bleibt.

Keine eigene Offenbarung der Christen
Von hierher möchte ich zugeben, dass ich auch über den folgenden Satz gestolpert bin: „So wie Juden die Treue der Christen gegenüber ihrer Offenbarung anerkennen, so erwarten auch wir von Christen, dass sie unsere Treue unserer Offenbarung gegenüber respektieren.“ (Nr. 6) Wenn Gott sich offenbart hat, dann kann die Offenbarung nicht in den „Besitz“ von Offenbarungswahrheiten auslaufen, also in der Differenz von „unser – euer“ angemessen beschrieben werden. Gerade angesichts der eschatologischen Wahrheitsperspektive und mit Blick auf die wahrheitstheoretischen Implikate jeder Rede von Offenbarung muss zwischen Offenbarungsansprüchen, Offenbarungssprachen und der Offenbarung des einen Gottes unterschieden werden. Wenn wir aber – mit der theologischen Voraussetzung von DE – an denselben Gott glauben, muss dies offenbarungstheologisch anders beschrieben werden.
Das wird mit einem weiteren Gedanken aus Nr. 6 deutlich. Hier heißt es: „Christen kennen und dienen Gott durch Jesus Christus und die christliche Tradition. Juden kennen und dienen Gott durch die Tora und die jüdische Tradition.“ Gerade als christlicher Theologe meine ich, dass dieses erkenntnistheologisch grundlegende Verhältnis anders beschrieben werden müsste: Christen kennen Gott durch die Überlieferung Israels und interpretieren ihn durch Jesus Christus. Dem entspricht der christologisch zentrale Titel des Mittlers (1 Tim 2,5) – des Interpres Gottes. Das hat Folgen für die Verhältnisbestimmung der offenbarungstheologischen Differenz, die „Dabru Emet“ aufmacht: Christlich muss man darauf bestehen, dass gerade wegen der bleibenden Selbstoffenbarung Gottes in Israel die christologische Explikation dieser Offenbarungsgeschichte keine davon abzusetzenden Offenbarung meinen kann, sondern eben ihre Interpretation. Sie wird nun wiederum nach christlichem Verständnis nicht von dieser Offenbarungsgeschichte Gottes zu trennen, sondern als konstitutives Moment der erfahrbaren Geschichte Gottes mit allen Menschen zu beschreiben sein.2)

Schlussfolgerungen
Was bedeutet das nun für die wahrheitstheoretische Fragestellung? Zunächst einmal werden einige logische Präsuppositionen und versteckte Ansprüche von DE deutlicher sichtbar, die nicht immer ein ausgewogenes Bild ergeben. Wichtiger ist mir allerdings etwas Anderes: nämlich die Herausbildung eines – wenn ich das in der Begrifflichkeit meiner Disziplin einmal ausdrücken darf – interpretationstheoretischen fundamentaltheologischen Modells. Wenn aber die soteriologisch relevante (Heils-)Wahrheit des Gottes der jüdischen Offenbarung in Jesus Christus eine eigene Interpretation und also Vermittlungsgestalt erfährt, lässt sich von beiden Seiten aus – jüdisch wie christlich – das theologische Verhältnis im Sinne der Ausgangsthese des Glaubens an denselben Gott durchaus beschreiben – als bleibende Differenz, die aber gerade theo-logisch gehaltvoll erscheint, weil (noch einmal christlich gesprochen) nur in der Differenz eines chalkedonensischen ungetrennt und unvermischt die Auffassung Gottes lebendig gehalten werden kann:
im Differenzraum von Transzendenz und Immanenz Gottes,
in den Differenzen unserer Sprachen von Gott,
in seinen unterschiedlichen Erfahrungsräumen,
in der Unausgeglichenheit unserer Traditionen.

Ob und wie dieser Differenzraum zu überwinden sei, in einer nicht mehr real einzunehmenden eschatologischen Perspektive – genau dies bleibt jener letzten Differenz anheim gestellt, die Gott für uns bleibt. Unser Sprechen bleibt auf das Unsagbare verpflichtet.
Anmerkungen
1) Nr. 2: “schließlich wird Gott Israel und die gesamte Welt erlösen“; – Nr. 6: “Der nach menschlichem Ermessen unüberwindbare Unterschied zwischen Juden und Christen wird nicht eher ausgeräumt werden, bis Gott die gesamte Welt erlösen wird, wie es die Schrift prophezeit.“ – Nr. 8: „Juden und Christen erkennen, ein jeder auf seine Weise, die Unerlöstheit der Welt, wie sie sich in andauernder Verfolgung, Armut, menschlicher Entwürdigung und Not manifestiert.“
2) Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein Forschungsprojekt des Kollegen Ulrich Winkler aufmerksam machen, der am Modell der theologisch problematischen Erwählungskategorie die blinden Flecken der Israeltheologie einerseits und der Pluralistischen Religionstheologie andererseits aufzudecken vermag, um zugleich nach einer Möglichkeit zu suchen, wie sich aus einem theologischen Exklusionsverhältnis die Möglichkeit einer soteriologischen Universalisierung ergeben kann. Die Kategorie Erwählung stellt dazu wesentliche grammatische Möglichkeiten bereit. Vgl. Winkler, Ulrich, Die unwiderrufene Erwählung Israels und das Wahre und Heilige anderer Religionen. Von der Israeltheologie und Religionstheologie zur Pluralismusfähigkeit der Religionen als interreligiöse Kriteriologie, in: Reinhold Bernhardt/Perry Schmidt-Leukel (Hg.), Kriterien interreligiöser Urteilsbildung (Beiträge zu einer Theologie der Religionen 1), Zürich 2005, 233-265; vgl. vor allem 259: „Die Erwählung verfällt dann dem Gericht, wenn sie als Legitimation eines Superioritätsverhältnisses und zur Exklusivierung jenseits der Relativierung fungiert.“

Der Autor ist Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Salzburg. Dieses Statement wurde bei einem Colloquium zu Dabru Emet am Zentrum für jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg gehalten.

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