Karl W. Schwarz EINSICHTEN EINES VISIONÄRS

Die Evangelische Akademie hat in ihrer Schriftenreihe einen neuen Band herausgebracht, der den Titel „Herausgesagt“ trägt und in der Tat eine ganz wichtige Aussage enthalt, die der Autor und Jubilar frisch von der Leber weg „heraussagt“, nämlich „Persönliche Erfahrungen gelebten Christseins im 20. Jahrhundert“. Als Autor begegnet uns Ulrich Trinks im Gespräch mit Melitta Berdenich und Horst Gaisrucker.

Ingrid Gaisrucker hat dazu ein schönes Vorwort geschrieben, in dem sie den Autor charakterisiert: als Anwalt mündiger Laien, als Visionär einer Lerngemeinschaft „Kirche“, als Barmen-Interpret und Motor des christlich-jüdischen Dialogs, als Ökumeniker und Zeuge des Evangeliums, als Experte für Entwicklungspolitik und die Weltverantwortung als Forderung des Glaubens.

Mir ist die Aufgabe zuteil geworden, dieses Buch vorzustellen und seinen Verfasser zu würdigen. Ich habe diese Aufgabe gern übernommen, weil mich mit dem Autor eine lange und freundschaftliche Weggefährtenschaft verbindet, ein gemeinsames Interesse an der kirchlichen Zeitgeschichte, also an den Entwicklungen im 20. Jahrhundert, die ja auch das Thema dieses Buches sind. Nicht zu Unrecht hat Gaisrucker ihr Vorwort mit dem Satz geschlossen: „So zeichnen auch seine (Trinks) Erinnerungen Entwicklungen des österreichischen Protestantismus nach, die er durch seine Persönlichkeit entscheidend mitbestimmte.“
Es ist sozusagen ein strukturierter Dialog zu fünf Fragen, die ich gleich eingangs benennen möchte:

• Es ist die Frage nach dem allgemeinen Priestertum und der Stellung des Individuums als Trager der Botschaft in der Gemeinschaft
• Es ist die Frage nach der „kulturellen Identität“ der Evangelischen Kirchen und deren Präsenz in der Öffentlichkeit vor dem Hintergrund ihrer wechselvollen Geschichte.
• Es ist die Frage nach der Zukunft des Christentums im Kontext der ökumenischen Erfahrungen.
• Es ist die Frage nach dem Einfluss der fortschreitenden Säkularisierung und der wirtschaftlichen Globalisierung auf die „frohe Botschaft“.
• Es ist die Frage nach dem christlich-jüdischen Dialog und in diesem Zusammenhang die Lernfähigkeit der Evangelischen Kirche.









In seiner dialogischen Konzeption erinnert das Buch an die seinerzeitige Geschichte der Evangelischen Akademie, die Albert Brandstatter in derselben Schriftenreihe (Bd. 9/1992) unter dem Titel „Konflikte Leben: 40 Jahre Evangelische Akademie Wien 1952-1992“ herausgebracht hat und in dessen Mittelpunkt ein ausführliches Interview mit Ulrich Trinks steht.

LUTHERGEIST STATT JUDENBIBEL?
Meine Vorstellung wird sich auf einen Aspekt konzentrieren, nämlich den christlich-jüdischen Dialog; hierbei aber etwas weiter ausholen.
Den Autor Trinks vorzustellen, darauf kann ich in diesem Rahmen verzichten. Aber ich möchte auf eine frühere Publikation von ihm eingehen, weil sie sozusagen das Herz seiner historischen Interessen freilegt. Ich meine das Handbuch „Kirche und Synagoge“, das im Ernst-Klett-Verlag in Stuttgart von Karl Heinrich Rengstorf und Siegfried von Kortzfleisch herausgegeben wurde. In diesem Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden hat Trinks das Verhältnis zwischen Protestanten und Juden in Österreich beschrieben (Bd. II, 1970, 532-558). Er setzt ein mit dem josefinischen Toleranzpatent (1781) und dem Judenpatent (1782) und schließt mit dem ihm nahe gestandenen Vorkampfer gegen den Antisemitismus Jakob Ernst Koch (1897-1966) in Wallern 1966. Dessen posthum erschienener Text „Israel in biblisch-prophetischer Sicht“ (in: Judaica 22/1966, 218 ff.) ist ein schönes Dokument für ein geschwisterliches „Miteinander“ und „Füreinander“ von Christen und Juden, er nennt sie ausdrücklich „Brüder in spe“. Trinks versteht es, einen spannenden Bogen aufzutun und die unterschiedliche Ausgangslage von Juden und Christen zu verdeutlichen, aber auch jene Persönlichkeiten unter den Protestanten zu benennen, welche sich für die Judenemanzipation einsetzten: der Wiener Theologieprofessor Friedrich Daniel Schimko (1796-1867), der erste und einzige evangelische Reichsratsabgeordnete Carl Samuel Schneider (1801-1882), Superintendent in Bielitz, und dessen Nachfolger als Reichsratsabgeordneter und Superintendent Theodor Haase (1834-1909). Mit dieser Personenkonfiguration wird sogar eine Interessens- und Aktionsgemeinschaft der beiden religiösen Minderheiten im Habsburgerreich angedeutet.

Sie löste sich freilich in dem Moment auf, als die Emanzipation vollzogen war und sich das kulturpolitische Klima durch das Aufkommen nationalistischer Strömungen radikal änderte. In deren Gefolge kam es zu ausgesprochen antisemitischen Tendenzen, für deren Initialzündung der evangelische Chirurg Theodor Billroth (1829-1894) 1875 verantwortlich gemacht wurde. Dessen unbedachte Äußerungen, die er später zu revozieren versuchte, riefen den Flächenbrand eines Rassenantisemitismus hervor, dessen sich dann auch der Wiener Bürgermeister Karl Lueger (1844-1910) und der Führer der Alldeutschen Georg von Schönerer (1842-1921) bedienen konnten.



Breiten Raum nimmt die Würdigung Haases ein; dessen Schrift „Antisemitismus“ lieferte die theologische Begründung dafür, dass ein Christ unmöglich Antisemit sein könne. Aber mit einer solchen Einstellung blieb er zunehmend allein, denn im Zuge der Los-von-Rom-Bewegung seit 1897 hatte sich auch ein deutsch-völkischer Antisemitismus etabliert, der auf den Protestantismus ausstrahlte und ihm weiszumachen versuchte, dass „nicht der Judenbibel, sondern dem deutschen Luthergeiste der Protestantismus seine Erfolge und völkischen Vorteile (verdankt)“ (zit. 549).

ARISIERTES CHRISTENTUM
Eine „religiöse Verklärung des [deutschen] Volkstums“ einschließlich eines begleitenden Antisemitismus bildete ein „nahezu unangefochtene[s] Ferment innerhalb der evangelischen Kirche“ (550) und das galt für Österreich wie für die übrigen Nachfolgestaaten der Donaumonarchie. Die Bereitschaft, die jüdische Geschichte „durch die heilige Geschichte unseres Volkes“ zu ersetzen, wie es in einem Aufsatz des sudetendeutschen Theologen Lic. Otto Waitkat (1870-1931) hieß (zit. 553), sie bestimmte das Zusammenleben der in die Defensive gedrängten außendeutschen Diaspora mit den anderen Nationalitäten.

Zur richtigen Einordnung dieses Diktums muss allerdings auch auf die spezifische Situation in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie hingewiesen werden, wo im Gefolge der Pariser Vororteverträge eine Stimmung herrschte, die nach Vergeltung für die im angeblichen „Völkerkerker“ der Habsburgermonarchie erlittene Unterdrückung rief.



Im Windschatten des Anschlusses Österreichs an Nazideutschland (1938) wurden Forderungen nach einer Arisierung des Christentums laut, ja sie schwappten sogar in den Verkündigungsbereich über. Der Religionsunterricht wurde in die Geiselhaft der nationalsozialistischen Ideologie genommen und aus Gründen einer Überlebensstrategie an der öffentlichen Schule das Alte Testament preisgegeben. Trinks zitiert empörte Stimmen aus den Gemeinden, die an den hebräischen Vokabeln Anstoß nahmen, er nennt aber auch diejenigen, die gleichsam gegen den Strom schwammen; etwa den burgenländischen Pfarrer Paul Nitschinger (1894-1971), der sich eindeutig zum Alten Testament als einem integralen Bestandteil des biblischen Kanons bekannte (554).

VON DER JUDENMISSION ZUM CHRISTLICH-JÜDISCHEN DIALOG
Vor diesem Hintergrund ist zu lesen, was Trinks über seine Kirche geschrieben hat. Er nennt sie in dem vorzustellenden Buch (53) „eine Kirche mit gestörtem Verhältnis zum Judentum“ und an einer anderen Stelle eine Kirche mit „eingeschränkt(er) Lernfähigkeit“ (58). Dieses kritische Urteil wird eingehend begründet. Der aus familiengeschichtlichen Gründen für das Thema Christen-Juden sensibilisierte Autor empfand die Haltung der Evangelischen Kirche hierzulande als außerordentlich „begrenzt“. Als er 1953 nach Österreich kam, war der alte aus deutschnationalen Quellen gespeiste Antisemitismus in Akademikerkreisen noch weit verbreitet und spürbar (56). Trinks erwähnt als Beispiel den seinerzeitigen Praktischen Theologen Gustav Entz (1884-1957), dessen ungebrochen antisemitische Grundeinstellung noch 1954 in Vortragen zum Ausdruck kam (53). Es ist bekannt, wie sehr er von seinen Studenten verehrt wurde, die ihn als Papa Entz titulierten und seinen seelsorgerlichen Umgang schatzten, damit aber auch eine notwendige Auseinandersetzung mit seiner „politischen Theologie“ blockierten, jedenfalls mit Nachdruck Einspruch erhoben, wenn er in den Kontext „universitärer Altlasten“ gerückt wird.



Trinks skizziert die schwierige Entwicklung von der „Judenmission“ zum jüdisch-christlichen Dialog und erwähnt hier ausdrücklich die Theologieprofessoren der auf Entz nachfolgenden Generation: Wilhelm Dantine (1911-1981), von dem er das schöne Wort überliefert, dass „Antisemitismus für Christen das Evangelium stumm mache“ (55), sowie Kurt Lüthi (*1923), daneben wiederholt Wolfgang Pommer (1909-2002) und Grete Hoffer (1906-1991) in Graz und einige andere. Als wichtigsten judenchristlichen Gefährten in dieser theologischen Umbruchsituation wird Dr. Felix Propper (1893-1962) apostrophiert. Er hat das Judentum als Problem protestantischer Theologie (61) gleichsam biographisch durchbuchstabiert und war einer der ersten, der sich von der Aufgabe der Judenmission distanzierte und den Antisemitismus als „ein christliches Gewächs aus christlicher Wurzel“ (Dt. Pfarrerblatt 1962/7, 145 ff.) gebrandmarkt. Beides wurde von der Kirchenleitung außerordentlich missbilligt.

ZEIT ZUR UMKEHR
Die generationenlange „Lähmung“ der Kirche gegenüber einem geforderten Neubeginn in der Begegnung mit dem Judentum ist schließlich gebrochen worden: Hier darf neben dem „Tag des Judentums“ vor allem auf die Synodalerklärung „Zeit zur Umkehr“ verwiesen werden. Diese war durch den zuständigen Oberkirchenrat Johannes Dantine (1938-1999) erarbeitet worden. Wie sehr Trinks dabei eingebunden war, kann nur vermutet werden. Er selbst gibt in dem vorzustellenden Buch keine dezidierte Auskunft, deutet höchstens an (63), dass er für einen ins Englische übersetzten Text die Verantwortung trage, mehr aber nicht. Dass er für dieses Anliegen aber mit Nachdruck eingetreten ist, das Judentum als den „älteren Bruder“ des Christentums zu akzeptieren, wird aus allen Zeilen des Buches ersichtlich.

An dieser Stelle geht er auf deutliche Distanz zu Professor Kurt Schubert (1923-2007), der diesen Gedanken der „Bruderschaft“ ablehnte. Mir ist diese Argumentation durchaus geläufig, die im Juden wohl den Nächsten sieht, nicht aber den „Bruder“. So ist auch in der protestantischen Theologie vielfach argumentiert worden, um der „Gleichstellung von Judentum und Christentum“ (66) eine Abfuhr zu erteilen. An dieser Stelle muss noch viel Rücksicht geübt werden.

Auch in manchen evangelischen Landeskirchen erzwingen pietistische und evangelikale Gemeinden ein Festhalten an der Judenmission, etwa in Württemberg. Österreich ist mit der erwähnten Synodalerklarung 1998 einen Schritt weiter gegangen und hat die Zwei-Wege-Theorie („Gott geht einen Weg mit den Juden und einen mit den Christen“) rezipiert. In der Synodalerklärung heißt es:

Da der Bund Gottes mit seinem Volk Israel aus lauter Gnade bis ans Ende der Zeit besteht, ist Mission unter den Juden theologisch nicht gerechtfertigt und als kirchliches Programm abzulehnen.



Folgerichtig wurde die Präambel der Kirchenverfassung um einen Satz erweitert: „Beide Kirchen bekennen die bleibende Erwählung Israels als Gottes Volk und wissen sich durch ihren Herrn Jesus Christus hineingenommen in die Heilsgeschichte Gottes.“

FÜR DAS PRIESTERTUM ALLER GLÄUBIGEN
Ulrich Trinks ist nicht nur ein ganz wichtiger Protagonist des christlich-jüdischen Dialogs, er hat als Historiker und insofern methodisch geschult die Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts zur Darstellung gebracht. Als leidenschaftlicher Anhänger eines sehr bewussten Laienpriestertums hat er nach dem Krieg so manche Restaurierung und „restaurative Verschlafenheit“ miterlebt und so manche Klerikalisierung, mochte er von seinem Selbstverständnis auch dieser Entwicklung mit Sorge und Beklemmung ins Auge geblickt haben. So ist seine Bilanz ernüchternd: etwa im Blick auf die Kirche als Lerngemeinschaft oder im Blick auf deren Bestandssicherung durch „Staatspauschale und Stampiglie“ (35), eine beißende Persiflage, welche manche kirchlichen Aktivitäten decouvriert, weil sie losgelöst vom Verkündigungsauftrag lediglich motiviert sind durch Statistik und Bestandswahrung. Er registriert verpasste Chancen des Aufbruchs und eine Kultivierung des Zu-spät-Kommens, der Ermüdung der Engagierten. Er beklagt, wie er schreibt, dass die Laienmitverantwortung „institutionell an das organisierte Pfarramt abgetreten“ wurde (25).

Trinks kämpft für das Priestertum aller Gläubigen, und es ist interessant, dass er auf ein Schlüsselerlebnis in einer englischen Bibelschule rekurriert (11), um diese Hochschätzung zu begründen. Es war eine Art Fackelträger-Theologie, die ihn darin bestärkte, die Pastorenkirche für beendet zu empfinden. So hat er sich gegenüber allen Klerikalisierungen der Hochschulseelsorge und der Erwachsenenbildung in den Akademien verschlossen und ist seinen Weg eines mündigen Laien gegangen: Die bedeutendste Frucht dieses Weges liegt in der Gestalt der Evangelischen Akademie Wien vor Augen. Sie wurde als ein Laboratorium an der Schnittflache von Kirche und Gesellschaft bezeichnet und ich bin, damit möchte ich auch schließen, dieser Institution dankbar, dass sie diesen engagierten Text von Prof. Ulrich Trinks herausgebracht hat.

Über das Titelbild des Autors wird sich die Frau Gesundheitsministerin kaum freuen, wohl aber die Tabakregie, denn es zeigt ihn in einer Pose verzückten Nikotingenusses, der die Intention des Heraussagens gleichsam unterstreicht und visuell bekräftigt. Es ist ein Bild, das an Trinks 70. Geburtstag erinnert, bei dem er als Exponent der Erwachsenenbildung in Österreich und als Motor des christlich-jüdischen Dialogs gefeiert wurde. Die Herausgabe des Buches „Herausgesagt“ wurde seitens der Evangelischen Akademie zum Anlass genommen, um ihrerseits die Dankbarkeit zu bezeugen für sein Lebenswerk, als das sich die Evangelische Akademie wohl verstehen darf. Dem möchte sich der Rezensent als ein korrespondierender Schüler des Autors und als Mitglied der Evangelischen Akademie gerne anschließen.

Der Autor ist Theologe, evangelischer Pfarrer und Ministerialrat im Kultusamt des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur
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Ulrich Trinks
Herausgesagt
Persönliche Erfahrungen gelebten Christseins im 20. Jahrhundert
im Gesprach mit Melitta Bardenich und Horst Gaisrucker
ISBN 3-95001732-5-0
(= Schriftenreihe Ev. Akademie Wien 11), Wien 2007
Zu bestellen bei:
Evangelische Akademie
Tel.: 01/ 4080695
E-Mail: akademie@evang.at
Preis: 10 Euro

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