Dinkelbach, Mirjam SCHAUT, DASS IHR LEID NICHT UMSONST WAR!

Worte zu Jes 52,13 - 53,12 beim Gottesdienst Mechaje Hametim am 9. November 2005, am Gedenktag der Novemberpogrome 1938, in der Kirche St. Ruprecht in Wien

Wir haben dieses furchtbare und wunderbare Lied gehört.
Die Einladung zu dieser Gedenkstunde und das Denken an dieses Lied waren eins.
Das Bild stand mir vor Augen, das Bild dessen,
der verachtet war und von den Menschen gemieden; der dahingerafft wurde durch Haft und Gericht, obwohl er kein Unrecht getan. Doch wen kümmerte sein Geschick?


Zugleich hat mir das Lied Angst gemacht.
Es ist zu groß und erhaben, um darüber zu sprechen.
Wir wollen es darum in großer Ehrfurcht tun.

Erlauben Sie mir, es sehr persönlich zu meditieren und zu betrachten in der Weise, wie es mein Leben begleitet hat und begleitet: Schulzeit, Studienzeit, 40 Jahre Kristallnacht 1978, heute.

*
Das Lied ist mir sehr früh begegnet. Unsere Religionslehrerin sagte einmal, wie schwer das Alte Testament zu lesen sei. Sie sagte es, weil sie damit konfrontiert war, wie schwer viele einen Zugang finden. In mir löste diese Bemerkung Sehnsucht aus. Ich nahm die Bibel zur Hand und begann zu lesen, vorne angefangen nach und nach bis zur letzten Seite. Ich wollte wissen, was an diesem Buch schwierig war. Die Fragen der Erwachsenen hatte ich noch nicht. Ich fand nichts Schwieriges. Ich fand Mose und das Meer. Ich fand den guten Hirten, von dem ich schon gehört hatte. Und ich fand des Knechtes Gottes Lieder und entdeckte den,
der durchbohrt wurde wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt; auf dem die Strafe lag um unsretwillen und durch dessen Wunden wir geheilt: Der Knecht, an dem der Herr Gefallen fand und der die Völker in Staunen setzt.

Das war neu. Worte über jemanden im Alten Testament, dem alten, ehrwürdigen, dem Urgestein des Glaubens. Worte über jemanden, viele viele Seiten, bevor der geboren wurde, den wir meinen. Oder: wer war das?
Das Buch der Bücher begann zu wachsen und sich dem Zugriff und Verstehen zu entziehen. Nicht weil es schwer ist, sondern weil es größer ist als wir. Wer war dieser Knecht?

*
Die Liebe zur Schrift führte zur Theologie und gleich zu Beginn zu einem Lehrer, der das Alte Testament glühend liebt 1). Das Studium führte ins Land der Bibel, und des Knechtes Gottes Lieder waren das Thema in Jerusalem. Wir lernten fragen, wer wohl der Knecht ist. Wer ist er? Der Prophet? Jesaja? Das Volk? Israel? Das Buch wuchs noch mehr;
denn was man uns noch nie erzählt hat, das sahen wir nun, was wir niemals hörten, das erfuhren wir jetzt:

Der Prophet als Knecht. Das Volk als Knecht. Israel, das auserwählte. Dem damals widerfuhr, was dort geschrieben steht:
Es sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm; verachtet und von den Menschen gemieden wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt. Wir schätzten es nicht. Es wurde misshandelt und niedergedrückt, aber tat seinen Mund nicht auf.

Wie immer es zur Zeit der Heiligen Schrift gewesen sein mag, im zweiten Weltkrieg geschah es vor unseren Augen:
Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg. Sie aber wurden abgeschnitten vom Land der Lebenden und zu Tode getroffen.

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Eingedenk dessen gestaltete die Uni Münster den 9. November 1978. 40 Jahre Kristallnacht. Nächtliche Anbetung in der Kirche.
So war der Wecker gestellt, und ich machte mich auf den Weg bei Nacht und bei Nebel. Die Straßen verlassen und still, kaum Lichter in den Fenstern, die Laternen milchig im Nebel, feucht und kalt und mir kroch die Angst in die Glieder, irreal: Jetzt ist nicht die Zeit, wo ich geholt werden möchte.
Wann ist je die Zeit, zu der man geholt werden möchte
wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt?
Wann ist je die Zeit, zu der man geholt werden möchte? Es ist der Traum aller Schafe, ungeschoren davonzukommen, ungeschlachtet vor allem ... so formuliert es meine Freundin 2). Und dennoch, sie wurden nicht gefragt,
als man sie wie Lämmer zum Schlachten führte. Und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so taten sie ihren Mund nicht auf.

Die Angst in den Gliedern, nachts, nicht auf dem Weg zum Schlachthof, sondern auf dem Weg in die Kirche. Plötzlich der Gedanke: Was nützt es nur einem Menschen auf der Welt, dass ich mich jetzt fürchte. Keinem Lebenden, keinem Verstorbenen. Wie ist das, Schritt für Schritt nachts in der Stille durch die leeren Straßen zu gehen. Ich kann mich bewegen, die Müdigkeit weicht durch die Bewegung und die klare feuchte Luft. Die Stille, die alles umfasst. Der Nebel, der die Geräusche verschluckt und mich umhüllt. Was auch geschieht, Gott ist größer. Geborgen alles in Gottes Hand: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Geborgen das auserwählte Volk im unkündbaren Bund:

Es hatte keine besondere Gestalt, sodass wir es anschauen mochten. Es sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm. Doch der Herr fand Gefallen an seinem Knecht.

„Gefallen“ fand er. Unbequemes Wort. Wort aus der Opfer-Theologie 3). Und: „Auserwählt“. Wozu? Es bequem zu haben? Das hat man nicht im Dienst des Herrn; denn der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen. Benutzt von Gott als sein Eigentum: Mein bist du, spricht der Herr, mir wert, weil ich dich liebe (sh. Jes 43). Und die Antwort: Du hast mich betört, o Herr, und ich ließ mich betören, du hast mich gepackt und überwältigt und an die Front gestellt. Sage ich aber: Ich will nicht mehr, so brennt in meinem Herzen ein Feuer, nicht auszuhalten (sh. Jer 20). So wussten Jeremia und Ezechiel; so wusste Jesaja. So wussten es alle, die er liebt.

*
Schließlich der Schritt in die Kirche. Kerzen. Stille und Geborgenheit noch mehr. Was ist Gebet in der Nacht für Gefolterte und Ermordete. Was haben diese Menschen mitgemacht, weil Volk ihres Gottes. Was nützt es ihnen, dass ich hier sitze.
Wir können nicht rückgängig machen, wir können nicht ungeschehen machen. Selbst wenn es nie mehr Gewalt auf der Welt geben würde. Was nützt es denen, die ihr zum Opfer fielen.
Irgendwo hörte ich es. Wer Ohren hat, der höre:

Gebt ihrem Leiden Sinn!
Schaut, dass ihr Leid nicht umsonst war!
Sie haben unsere Krankheit getragen, unsere Unentschlossenheit, unsere Feigheit, auf sich geladen unsere Schmerzen und unsere Angst. Durch ihre Wunden sind wir geheilt von unserem kleinlichen, selbstmitleidreichen Sinn.

Wir können unseren Sinn stärken an ihnen, die zu leiden gezwungen waren. Sie konnten sich ihr Schicksal nicht aussuchen, das verwoben ist mit dem Wirken Gottes. Wir können an ihrem Beispiel wachsen und uns dem Ruf Gottes stellen.
Wir können in die Gemeinschaft mit ihnen eintreten, deren Andenken ausgelöscht werden sollte für Zeit und Ewigkeit.

Geheimnisvolle Sprache über den Tod in der Bibel. Tod: Nichtsein im Fernsein von Gott und den Menschen. Wo aber sollen unsere Toten sein, wenn nicht unter uns. Nicht ausgelöscht. Ihr Licht leuchtet uns heute und immer.
Gehen wir gemeinsam mit ihnen in der Lichterprozession, wie es verheißen ist vom Herrn der Welt:
In jenen Tagen wird es geschehen, dass 10 Männer aus allen Sprachen der Völker einen Judäer beim Rockzipfel ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist. (Sach 8,23)

Gehen wir gemeinsam mit ihnen durch unseren Alltag und lernen die Unausweichlichkeit des Herrn.
Gehen wir gemeinsam mit ihnen den geheimnisvollen Weg mit Gott, der uns führt, wohin wir nicht wollen (Joh 21,18).
Gehen wir gemeinsam mit ihnen, aufgenommen in die Gemeinschaft in Gott, sie und wir, geborgen in Zeit und Ewigkeit.

Sr. Mirjam Dinkelbach ist Äbtissin der Zisterzienserinnenabtei Marienkron im Burgenland.
1) PROF. DR. ERICH ZENGER IN DANKBARKEIT
2) SR. MARIA HELENE ZIMMER, FRANZISKANERINNEN DER BARMHERZIGKEIT, ANDERNACH, DEUTSCHLAND
3) ERNST WÜRTHWEIN, WORT UND EXISTENZ, STUDIEN ZUM ALTEN TESTAMENT, GÖTTINGEN 1970, S. 149FF

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