Dirscherl, Erwin DAS JUDE-SEIN JESU UND SEINE KONSEQUENZEN FÜR DIE DOGMATIK

Das Jude-Sein Jesu konfrontiert mit dem gültigen Bund Israels

Die Frage nach dem Ursprung Jesu als Frage nach der Erwählung Israel
Wenn die christliche Dogmatik nach dem Ursprung Jesu fragt, dann führt dies sehr schnell in das Geheimnis Gottes hinein. Schon die ntl. Ansatzpunkte einer sog. Präexistenzchristologie machen deutlich, dass bei der Frage nach der Bedeutung und dem Ursprung Jesu die Gottesfrage zur Debatte steht. Aus diesem Ansatzpunkt entfaltet sich schließlich eine trinitarische Gottrede
Aber es gilt bei der Frage nach dem Ursprung Jesu noch einen anderen Ursprung zu bedenken: den Ursprung Jesu in der Erwählungsgeschichte des Volkes Israel. Jesus ist als Jude aufgewachsen und er ist ohne diesen Hintergrund überhaupt nicht zu verstehen. Die Evangelisten wissen darum, wenn sie bei ihrer Deutung des Lebens, Sterbens und der Auferweckung Jesu Christi natürlich auf jüdische Deutekategorien zurückgreifen. Alle christologischen Hoheitstitel verdanken sich dem jüdischen Erbe und die Christologie muss sich geradezu vor der Bibel Israels ausweisen können. Wenn Paulus in den berühmten Kapiteln 9-11 des Römerbriefs über die Wurzel des Christentums spricht, dann gilt das entsprechend für die Christologie. Das Leben und die Bedeutung Jesu Christi sind zutiefst im jüdischen Erbe verwurzelt. Wir können unseren christlichen Glauben ohne den jüdischen Wurzelgrund nicht verstehen. Hier gilt es, eine Asymmetrie im jüdisch-christlichen Verhältnis zu beachten. Denn diese Abhängigkeit des Christentums vom Judentum ist nicht umkehrbar, so wie die Zeit nicht umkehrbar ist. Unsere Angewiesenheit auf das Judentum bedeutet nicht, dass auch das Judentum auf uns angewiesen wäre. Wir haben vielmehr dankbar zur Kenntnis zu nehmen, dass das Judentum sich auch in großen Persönlichkeiten dem jüdisch-christlichen Dialog gegenüber öffnet, ohne dass dies notwendig so sein müsste. Es gilt also: Die Frage nach dem Ursprung Jesu führt nicht nur in das Geheimnis Gottes, sondern auch in die Erwählungsgeschichte Israels als Wurzelgrund hinein. Eine Christologie kann und darf nicht am Judentum vorbei oder auf Kosten der bleibenden Erwählung Israels entfaltet werden. Darauf hat das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Erklärung “Nostra aetate“ ebenso hingewiesen, wie Johannes Paul II
1.2. DAS ALTE TESTAMENT IST ALS BIBEL ISRAELS UND ALS BIBEL JESU ERNST ZU NEHMEN UND ZU RESPEKTIEREN
Von Jesus und seiner Geschichte zu erzählen bedeutet, von Israel und seiner Bundesgeschichte zu erzählen. Diesem Anliegen hat sich auch das jüngste Dokument der Päpstlichen Bibelkommission aus dem Jahr 2001 angenommen, das den Titel trägt: „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“1. Hier wird festgestellt, dass das Neue Testament ohne das Alte Testament nicht entschlüsselt werden könnte, wie eine Pflanze ohne Wurzeln zum Austrocknen verurteilt wäre (Nr. 84). Beim Studium der großen Themen des Alten Testaments werde einem die eindrucksvolle Symbiose bewusst, die die beiden Teile der christlichen Bibel, AT und NT, verbinde und zugleich die überraschende Kraft der geistlichen Bande, die die Kirche Christi mit dem jüdischen Volk verknüpfen (vgl. Nr. 85). Schon das Zweite Vatikanische Konzil sprach von jenem Band, durch das das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamm Abrahams geistlich verbunden ist (NA 4). Johannes Paul II. sprach folgerichtig in der Synagoge in Rom die Worte aus: “Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder“2. Johannes Paul II. bemüht sich wie kein Papst vor ihm um den jüdisch-christlichen Dialog. Eine klassische Formulierung, die sich auch in dem genannten Dokument der päpstlichen Bibelkommission findet, lautet: “Die erste Dimension dieses Dialogs, nämlich die Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes und dem des Neuen Bundes ist zugleich ein Dialog innerhalb unserer Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und zweiten Teil ihrer Bibel“3. Der Dialog zwischen Christentum und Judentum entspricht also gewissermaßen dem Dialog zwischen Altem und Neuem Testament, aber nicht als eine Größe der Vergangenheit, sondern als eine Größe der Gegenwart, weil die zweite Dimension des Dialogs der heutige Dialog mit dem lebendigen Judentum ist. Christoph Dohmen betont zu Recht, dass sich der Papst mit dieser Formulierung deutlich und eindeutig gegen jede Form einer Substitutionstheorie stellt, die besagen würde, dass das Christentum an die Stelle des Judentums getreten sei. Der vom Papst gebrauchte Entsprechungsgedanke lässt ein Abgleiten des Judentums in die Vorgeschichte des Christentums nicht zu, weil das Alte Testament bleibend gültig der erste Teil der christlichen Bibel ist und auch Bibel Israels bleibt4. Man kann in diesem Sinne geradezu von einer Verpflichtung zum christlich-jüdischen Dialog sprechen, auf den wir schon innerhalb unseres eigenen Kanons der zweigeteilten Bibel verwiesen sind. Dies muss auch von einer Dogmatik noch ernster genommen werden als bisher

H. Frankemölle hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das Jude-Sein Jesu notwendig dann in den Blick gerät, wenn man das Menschsein Jesu radikal ernst nimmt, und nicht monophysitisch seine Göttlichkeit überbetont. Hier wird in einer heutigen Christologie, die, wie Wilhelm Breuning betont hat, nicht antijüdisch durchgeführt werden darf, das Konzil von Chalkedon wieder neu in den Blick genommen. Dieses Konzil formulierte, dass Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist. Josef Wohlmuth hat betont, dass wir christlich nicht undifferenziert von einer Menschwerdung Gottes sprechen, sondern von einer Menschwerdung des Logos, die davon ausgeht, dass der Vater unsichtbar und unbegreiflich bleibt5. In diesem Kontext wird eine der spannendsten Fragen in der Überlieferung des Herrenmahles angesprochen: Geht es bei der Feier des Abendmahles um den Bund oder um den Neuen Bund?6 Selbst wenn wir von einem Neuen Bund sprechen, müssen wir als Christinnen und Christen anerkennen, dass auch schon im Alten Testament von einem Neuen Bund bei Jeremia die Rede ist, dass es immer wieder die Erneuerung des Bundes gibt. Von hierher wird die Dogmatik noch Vieles zu denken haben und es wird Veränderungen auch in der Rede von Kirche als Volk Gottes geben müssen. Denn Kirche kann sich nicht mehr auf Kosten Israels als Volk Gottes begreifen, sondern nur so, dass der Bund Israels dadurch nicht entwertet wird.

2. DAS JUDE-SEIN JESU ERNST ZU NEHMEN BEDEUTET, DAS BILDERVERBOT ERNST ZU NEHMEN
Es ist mir bewusst, dass das Bilderverbot auch in der jüdischen Tradition eine unterschiedliche Rezeption gefunden hat. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass der Debatte um das Bilderverbot in der heutigen systematischen Theologie eine spannende Bedeutung zukommt. Denn es stellt sich doch in der Christologie die Frage, ob in Jesus Christus Gott voll und ganz epiphan, sichtbar wird. Geschieht die Beziehung zu Gott eher im Sehen oder geschieht sie eher in einem Hören? Hier zeigt uns die biblische Tradition, dass der Gott Israels den Menschen als sprechender Gott im Wort nahe kommt. Nähe Gottes geschieht im Sprechen – deshalb sprach Karl Rahner von der Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes. Gott teilt sich in seinem Wort selber mit und hier geschieht im Sprechen eine unmittelbare Nähe zwischen Gott und Mensch. Um diese unmittelbare Nähe geht es dem jüdischen und christlichen Glauben. Insofern könnte man sagen, dass dem Hören eine vorgeordnete Bedeutung vor dem Sehen zukommt. Diese Problematik ist auch durch die Rezeption des Denkens von Emmanuel Levinas in die christliche Theologie hineingekommen. Doch auch Levinas macht nicht den Fehler, das Hören gegen das Sehen auszuspielen, wenn er davon spricht, dass ich mit dem Wort Gottes konfrontiert werde, wenn ich das Antlitz des anderen Menschen sehe und mir dieses Antlitz des Anderen bedeutet: Du sollst nicht töten. Levinas spricht hier von einer Verantwortung angesichts des Anderen, in der ich unmittelbar ein Wort Gottes vernehme, das mich auf einzigartige Weise trifft. Und wenn der Kolosserhymnus davon spricht, dass Jesus Christus Bild des unsichtbaren Gottes ist, dann gilt eben auch für eine christliche Tradition, dass Gott selbst in seiner Unbegreiflichkeit unsichtbar bleibt. Auch die Entfaltung einer christlichen Trinitätslehre will Gott nicht als Begreifbaren vor Augen stellen. Daher betont die kirchliche Tradition immer wieder, dass die Rede vom dreieinen Gott ein mysterium stricte dictum darstellt und auch Josef Ratzinger spricht in seiner Einführung in das Glaubensbekenntnis davon, dass die Rede vom trinitarischen Gott in das unbenennbare Geheimnis hineinverweist. Insofern haben es das biblische Bilderverbot und die ernst gemeinte Rede von einer Unbegreiflichkeit Gottes jüdisch und christlich unmittelbar miteinander zu tun. Dies aber bedeutet auch, bei aller Rede von der Immanenz Gottes in der Welt die Rede von seiner bleibenden Transzendenz und Anderheit nicht zu vernachlässigen. Auch wenn wir von einer Menschwerdung Gottes reden, wird Gott nicht plötzlich begreifbar. Es bleibt eine Uneindeutigkeit in der Rede vom unbegreiflichen Gott, die jüdischen wie christlichen Glauben immer wieder dazu nötigt, die Hl. Schrift als Gottes Wort im Menschenwort neu zu deuten. Johannes Paul II. sprach davon, dass diejenigen eine falsche Vorstellung von Gott und Menschwerdung haben, die glauben, bei Gott als absolutem Wesen müsse auch jedes seiner Worte absolute Geltung haben, unabhängig von allen Einflüssen der menschlichen Sprache. Der Papst spricht hier von einer Illusion, in der man die Wirklichkeit der Geheimnisse der Inspiration der Hl. Schrift und der Menschwerdung ablehnt, um sich an eine falsche Auffassung des Absoluten zu klammern. Denn wenn Gott “sich in einer menschlichen Sprache ausdrückt, gibt er keineswegs einen jeden Ausdruck eine einheitliche Deutung, er verwendet vielmehr auch mit äußerster Geschmeidigkeit die möglichen Nuancen und nimmt auch deren Begrenzungen in Kauf“7. Der Papst nimmt jene Spannung ernst, von der auch das Zweite Vatikanische Konzil in der Offenbarungskonstitution “Dei Verbum“ gesprochen hat. Gottes Wort erreicht uns nur im menschlichen Wort und aufgrund dieser Spannung müssen wir immer wieder neu dieses uneindeutige Wort deuten. Dies verbindet jüdische und christliche Schriftexegese miteinander und dies war schon den Vätern in den ersten Jahrhunderten klar. Talmudische und christliche Schriftdeutung kommen nie an ein Ende, solange die Zeit andauert, in der wir gemeinsam auf die Vollendung der Welt durch Gott warten. Auch diese Offenheit des Deutungsgeschehens hat mit dem Bilderverbot in einer philosophischen und theologischen Reflexion zu tun.

Ein weiterer Aspekt des Ernstnehmens des Bilderverbots liegt darin, zu erkennen, dass der Mensch als Ebenbild Gottes zur Sprache kommt. Die Exegese hat uns darauf hingewiesen, dass Ebenbildlichkeit des Menschen bedeutet, Stellvertreter bzw. Stellvertreterin Gottes in einer Verantwortung für die Schöpfung zu sein. Die Rede von der Ebenbildlichkeit hat also eine eminent ethische Bedeutsamkeit, sie führt in die Praxis des Glaubens hinein. Damit sind wir bei der Bedeutung des Doppelgebotes von Gottes- und Nächstenliebe, das jüdisch wie christlich im Zentrum der Gottrede steht.

3. DAS DOPPELGEBOT VON GOTTES- UND NÄCHSTENLIEBE ALS ZENTRUM JÜDISCHER UND CHRISTLICHE GOTTREDE
Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas hat einmal in einem Interview gesagt, dass Mt 25,32ff wörtlich wahr ist. Dies meinte er natürlich nicht in dem Sinne, dass er damit eine christliche Christologie akzeptierte, sondern er meinte es so, dass auch in diesem christlichen Zeugnis gesagt wird, dass eine Liebe zu Gott nicht ohne die Liebe zum Anderen zu haben ist und umgekehrt. Gottesliebe und Nächstenliebe haben es jüdisch wie christlich unmittelbar miteinander zu tun. Auch ein christlicher Theologe wie Karl Rahner hat dies immer wieder betont. Ich kann Gott nicht lieben ohne den Nächsten zu lieben, Gottesliebe und Nächstenliebe stehen in einem Verhältnis von “unvermischt und ungetrennt“. Wenn beide Vollzüge unmittelbar miteinander zu tun haben, dann bedeutet dies, dass sie nicht in einem Vermittlungsverhältnis stehen können. Ich kann nicht die Liebe zum Nächsten gebrauchen oder missbrauchen, um damit in die Gottesliebe hineinzukommen oder umgekehrt. Beides geschieht unmittelbar in der Zeit. Die Frage nach der unmittelbaren Beziehung zwischen Gott und Mensch stellt sich für Levinas als Frage nach dem Guten, das in der Welt und in der Zeit gnadenhaft geschieht. Das Gute geschieht grundlos und damit wird es zum Problem für jede vermittelnde und begründende Rede. Das Gute geschieht geschenkt und unmittelbar. Aber dieses Geschenk beansprucht den Menschen, das Gute geschieht für uns aber nicht ohne uns. Es gilt jüdisch wie christlich, dass das erlösende Gute schon in dieser Zeit wirksam ist, aber noch nicht vollends Wirklichkeit geworden ist. Die Spannung der Erwartung gilt jüdisch wie christlich. Das bedeutet, dass auch der christliche Glaube noch ein wartender Glaube in der Hoffnung ist. Dies ermöglicht es auch, in der Tradition Bubers und Rosenzweigs von einem gemeinsamen Warten von Judentum und Christentum zu sprechen, das auf unterschiedliche Weise, auf je andere Weise in der Zeit und in der Geschichte geschieht. Hier gilt es einen einzigartigen Unterschied zu beachten, eine einzigartige Besonderheit im Verhältnis zwischen Juden und Christen, die ich abschließend bedenken will.

4. DAS CHRISTLICH-JÜDISCHE VERHÄLTNIS KONFRONTIERT UNS MIT DEM GEDANKEN EINZIGARTIGER BEZIEHUNGEN ZWISCHEN GOTT UND DEN MENSCHEN
Jüdisch wie christlich geht es um einzigartige Beziehungen, die zur Sprache kommen. Es geht um die Einzigkeit Gottes und um die Einzigkeit jedes Menschen. Wenn man dieses Phänomen der Einzigkeit ernst nimmt, und dies tut etwa der Philosoph Emmanuel Levinas, dann muss man sich an dem Phänomen der Andersheit abarbeiten. Einzigkeit bedeutet Unvergleichbarkeit. Einzigartige können nicht verglichen werden und das bedeutet, dass die Sprache der Einzigkeit und Andersheit nicht die Sprache von Vergleichen sein kann. Dann aber kann es im Verhältnis von Christentum und Judentum als je einzigartige Erwählungen vor Gott nicht darum gehen, eine Sprache des “Mehr oder Weniger“ oder “besser oder schlechter“ zu benutzen. Einzigkeit ernst zu nehmen, bedeutet auch auf der Ebene der Sprache anders als vergleichend vom Anderen zu reden. Es ist in der heutigen christologischen Debatte spannend, dass die Frage nach der Einzigkeit Jesu eben nicht die Einzigkeit Israels aufs Spiel setzen darf. Analog gilt, dass die Rede von der Einzigkeit Jesu Christi nicht gegen die Rede von der Einzigkeit eines jeden Menschen ausgespielt werden darf, sondern geradezu für diese einstehen muss. Biblisch kennen wir in der jüdischen und christlichen Tradition eben jenes Phänomen: Das, was ein Einziger für sein Volk, für die Welt und für Gott tut, kann für alle Bedeutung erlangen. Dies hängt mit dem Phänomen der Stellvertretung zusammen, mit dem Phänomen, dass Einzigkeit und Universalität keine sich gegenseitig ausschließende Größen sind. Einzigkeit kann es damit zu tun haben, eine universale Verantwortung für alle zu übernehmen und zu tragen. Von dorther kommt der Rede von einer Gottesebenbildlichkeit des Menschen oder von dem neuen Adam in Jesus Christus eine besondere Bedeutung zu, denn immer steht dieser Gedanke der Stellvertretung im Zentrum. Levinas spricht davon, dass es hier um eine Sprache und eine Bedeutsamkeit “für-den-Anderen“ geht. Eine Sprache der Einzigkeit sucht diese Öffnung für den Anderen zu artikulieren, sie versucht, nicht exklusivistisch auszugrenzen. Der Auftrag für das Christentum kann dann bedeuten, für die Geschichte Israels und das Judentum einzustehen, ohne ihm seine Einzigkeit in der Erwählung und seine Andersheit zu rauben. Im Verhältnis zwischen Einzigartigen gibt es Nähe und Differenz. Es geschieht Gemeinschaft zwischen Unterschiedenen. Emmanuel Levinas sagt einmal, dass nur Unterschiedene einander nahe sein können. Differenz zum Anderen bedeutet aber nicht In-Differenz, es geht nicht um Gleichgültigkeit. In der Differenz kann vielmehr Nähe geschehen, unmittelbare Nähe zwischen Einzigartigen im Sprechen. Wenn wir den Gedanken der Einzigkeit des Anderen ernst nehmen, kann ich nicht schon immer etwas vom Anderen wissen, es sei denn, er offenbart sich mir in der Sprache. Die Begegnung mit dem Einzigartigen bedeutet warten, bedeutet ein zeitliches Geschehen. Ich habe zu warten, was mir der Andere sagt. Von dieser Haltung ist auch der Dialog zwischen Einzigartigen oder dann zwischen Judentum und Christentum geprägt. Es gilt im Dialog zu warten, was geschehen wird, was wir einander sagen, wie wir uns miteinander verständigen.

Abschließend weise ich darauf hin, dass gerade die Rezeption des Denkens von Emmanuel Levinas auch in einer heutigen Christologie Veränderungen zeitigt. Wenn Levinas in seinem berühmten Aufsatz “Ein Gott-Mensch“ davon spricht, dass auch in der jüdischen Tradition von einer Kenose Gottes die Rede sein kann, von Gott, der im Menschen leidet, oder wenn er sagt, dass jeder an der Stelle des Messias steht in einer unvertretbaren stellvertretenden Verantwortung, dann gibt es auch hier eine unmittelbare Nähe in der Differenz zwischen christlicher und jüdischer Rede von Menschwerdung. Hier steht eine christliche Dogmatik erst am Anfang und man darf gespannt sein, wie sie weiter voran schreitet. Denn Dialog bedeutet auch lernen und sich verändern. Insofern muss sich auch die Dogmatik als eine lernende Disziplin weiterhin verstehen.
Anmerkungen

1 Vgl. dazu Ch. Dohmen (Hg.), In Gottes Volk eingebunden. Jüdisch-christliche Blickpunkte zum Dokument der Päpstlichen Bibelkommission “Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“, Stuttgart 2003
2 Vgl. W. Breuning, Mit dem Stamm Abrahams geistlich verbunden, in: M. Marcus/E.W. Stegemann/ E. Zenger (Hg.), Israel und Kirche heute. FS E.L. Ehrlich, Freiburg 1991, 22-34, hier 25.
3 Vgl. das Zitat bei W. Breuning, Positive Beispiele christlich-jüdischer Zusammenarbeit in jüngeren katholischen Dokumenten, in: Ders., Dogmatik im Dienst an der Versöhnung, hrsg. v. E. Dirscherl, Würzburg 1995, 159-173, hier 165.
4 Vgl. Ch. Dohmen, Israelerinnerung im Verstehen der zweieinen Bibel, in: Ders. (Hg.), In Gottes Volk eingebunden, 9-19, hier 11.
5
6 Vgl. dazu J. Wohlmuth, Die Tora spricht die Sprache der Menschen. Theologische Aufsätze und Meditationen zur Beziehung von Judentum und Christentum, Paderborn 2002
7 Vgl. dazu J. Wohlmuth, Im Geheimnis einander nahe. Theologische Aufsätze zum Verhältnis von Judentum und Christentum, Paderborn 1996, 156ff>/li>
8 Vgl. Päpstliche Bibelkommission (Hg.), Die Interpretation der Bibel in der Kirche. Hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1993, darin die Vorrede von Papst Johannes Paul II. auf Seite 7-20, hier 13.

Der Autor ist Ordinarius für Dogmatik und Dogmengeschichte der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Regensburg.

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