Himmelbauer, Markus LERNEN AUS DER GESCHICHTE?
22/02/06 Predigt
Was bedeutet es zu lernen? Einige Handgriffe einzuüben, die dann bei der passenden Gelegenheit angewendet werden? Das sicherlich auch. Von der gelungenen Herstellung eines Produkts bis zum großartigen Konzert beruht der Erfolg auf der Wiederholung eingeübter Handbewegungen.
Aber noch mehr: Lernen ist wissen, etwas können, ein gewisses Repertoire an Fertigkeiten und Reaktionsmöglichkeiten zu erwerben und die Gabe, Fähigkeiten im richtigen Moment angemessen einzusetzen. Lernen ist auch die Unterscheidung der Geister.
Lernen aus der Geschichte? Das mit den eingelernten Handbewegungen klappt nicht, wenn es um Geschichte geht. Geschichte wiederholt sich nicht. Es ist nicht so, dass wir bestimmtes geschichtliches Wissen mit dem Trichter abgefüllt bekommen und dann ist klar, was heute zu tun ist. Lernen aus der Geschichte ist nicht so geradlinig und eindimensional.
Werfen wir einen Blick in die Bibel. Als das Volk Israel das gelobte Land betritt und das erste Mal Dankopfer darbringen soll, wird es von Gott aufgefordert, sich seiner Geschichte zu erinnern. Im Buch Deuteronomium, dem 5. Buch Mose, Kapitel 26 des Ersten Testaments soll das Volk Israel beim Eintritt in das Gelobte Land das folgende Bekenntnis sprechen: „Meine Eltern waren umherirrende aramäische Leute. Sie stiegen hinab nach Ägypten und lebten dort als Fremde in der Minderheit.“ Der Blick auf das gute Ende der Geschichte heute bedeutet für Israel: „Freue dich an dem Guten, das Adonaj, deine Gottheit, dir und deiner Familie zukommen lässt: Du und die levitischen Familien und die Fremden, die in deiner Mitte sind.“
Aber noch mehr: Lernen ist wissen, etwas können, ein gewisses Repertoire an Fertigkeiten und Reaktionsmöglichkeiten zu erwerben und die Gabe, Fähigkeiten im richtigen Moment angemessen einzusetzen. Lernen ist auch die Unterscheidung der Geister.
Lernen aus der Geschichte? Das mit den eingelernten Handbewegungen klappt nicht, wenn es um Geschichte geht. Geschichte wiederholt sich nicht. Es ist nicht so, dass wir bestimmtes geschichtliches Wissen mit dem Trichter abgefüllt bekommen und dann ist klar, was heute zu tun ist. Lernen aus der Geschichte ist nicht so geradlinig und eindimensional.
Werfen wir einen Blick in die Bibel. Als das Volk Israel das gelobte Land betritt und das erste Mal Dankopfer darbringen soll, wird es von Gott aufgefordert, sich seiner Geschichte zu erinnern. Im Buch Deuteronomium, dem 5. Buch Mose, Kapitel 26 des Ersten Testaments soll das Volk Israel beim Eintritt in das Gelobte Land das folgende Bekenntnis sprechen: „Meine Eltern waren umherirrende aramäische Leute. Sie stiegen hinab nach Ägypten und lebten dort als Fremde in der Minderheit.“ Der Blick auf das gute Ende der Geschichte heute bedeutet für Israel: „Freue dich an dem Guten, das Adonaj, deine Gottheit, dir und deiner Familie zukommen lässt: Du und die levitischen Familien und die Fremden, die in deiner Mitte sind.“
Dankbarkeit und Selbstbewusstsein heute haben also mit einem demütigen Blick auf die Geschichte zu tun. Gerade hier in Steyr kann man wohl auf das epochale Oeuvre von Walter Wippersberg hinweisen „Das Fest des Huhnes“. Sie erinnern sich, da heißt es: Das wilde und unentdeckte Oberösterreich war in der Geschichte ein Durchzugsland vieler Völker. Die Müden, Schwachen, Kranken und Faulen, auch die Pflichtvergessenen sind hier geblieben und bildeten den Stamm der Oberösterreicher. Nun, das ist nicht unbedingt eine Feststellung historischer Fakten, doch ein subversiver Impuls gegen die Ausblendung mancher Bereiche aus unserem Geschichtsbild.
Wir brauchen einen klaren und nichts beschönigenden Blick auf unsere Geschichte. Wohlstand und Frieden in unserem Land beruhen nicht nur auf eigener Leistung, sie sind auch ein Geschenk. Und er hat seinen Preis in anderen Ländern des Südens und seine Kehrseite, größer werdende Armut auch unter uns. Und Heimat ist genau betrachtet nicht jene reine, nostalgisch umwölkte ländliche Idylle, als die wir nur allzu leicht versucht sind, sie wahrzunehmen.
Zur Geschichte dieser Stadt gehören die Ketzerverbrennungen des ausgehenden Mittelalters, die Judenvertreibung des 15. Jahrhunderts, der bisweilen blutige Kampf der christlichen Konfessionen im 16. und 17. Jahrhundert, das Leid der Arbeiterinnen und Arbeiter im Frühkapitalismus im 19. Jahrhundert und auch die abermalige Vernichtung der jüdischen Gemeinde in Steyr vor knapp 70 Jahren.
Heute denken wir an das Novemberpogrom 1938, an die Judenverfolgung im NS-Staat. Was ist heute mit uns anders, als jene Generation damals? Ist es ein anderes politisches Umfeld allein? Ich weiss, wo meine geliebten Großväter und Großmütter in der Zeit zwischen 1938 und 1945 waren. Aber ich weiß nicht, was sie zu diesem Thema gedacht haben. Vielleicht haben sie sich auch gar nichts gedacht. Aber genau das scheint ja gerade das Problem zu sein.
Erinnerung ist mit gedanklicher Auseinandersetzung verbunden. Eben mit lernen. Und da helfen uns einstudierte Sätze wie „dem traurigen Schicksal auch der Frauen und Kinder gedenken“ oder „So etwas darf nie wieder passieren“ nicht weiter. Ich höre sie jedes Jahr beim Totengedenken am Kriegerdenkmal meiner Heimatstadt. Genauso wie uns auch einstudierte Handlungen nicht weiter helfen: „Ich werde im Kraxental keinen Scheiterhaufen mehr aufstellen.“ Dazu gehören auch verordnete Gedenkriten, verordneter Antifaschismus, wie er im real existierenden Sozialismus praktiziert wurde.
Wohl meinende Überschriften werden schnell zu hohlen Phrasen, wenn es konkret wird. „Klar bin ich gegen den Krieg, der so viel Leid gebracht hat und das mit den Juden war auch schlecht.“
Verlangen wir von dem, der solches spricht eine positive Würdigung des Jüdischen in unserer Kultur, in unserem Staat, im christlichen Glauben, verlangen wir von ihm Mitgefühl nicht nur für Frauen und Kinder im Allgemeinen, sondern für Sinti und Roma, polnische und russische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Homosexuelle, Kommunisten, Wehrdienstverweigerer. Ich bin nicht sicher, ob wir eine Wertschätzung ihrer Person hören werden.
Warum stehen wir hier: Sie, ich? Sind wir es, die aus der Geschichte gelernt haben? Das wäre eine feine Erklärung: wir die Guten, die Anderen die Bösen. Das täte unserem Ego wohl. Und doch scheint das mir keine brauchbare Erklärung zu sein.
Statt "Lernen aus der Geschichte" ist es wohl besser zu formulieren „Antworten auf die Geschichte“. Antworten hat nichts mit schematischer Wiederholung des Eingelernten zu tun. Antworten ist eine Aktivität, die angemessen auf eine neue Situation reagiert. Antworten ist auf mein Gegenüber bezogen, das mir unbekannt, in seinen Haltungen auch fremd sein kann. Und doch ist er oder sie ein Du mit menschlicher Würde. Vielleicht braucht es eines Tages dazu noch mehr persönlichen Einsatz, dafür Zeugnis zu geben, als die unverbindliche Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung.
Dieses Antworten braucht einen differenzierten Blick auf die Geschichte, zugleich lernen wir dadurch auch einen differenzierten Blick auf die Gegenwart, hoffentlich auch eine Wertschätzung des Anderen. Davon spricht der Text im Buch Deuteronomium. Zum Blick auf die Geschichte gehört gleichzeitig soziale Verantwortung heute, konkret die Einsicht, heute mit den Fremden zu teilen und zu feiern. Ein jüdischer Text, der als Heilige Schrift auch Grundlage des christlichen Bekenntnisses ist. Keine Auflistung theologischer Sätze, die andere formuliert haben und nun aufzusagen sind, ist gefordert, sondern eine bestimmte Deutung der eigenen Geschichte und konkrete Verhaltensweisen daraus - was natürlich auch theologisch relevant ist.
Lernen können ist eine Chance, eine Chance, die möglichst vielen in unserer Gesellschaft möglichst lange geschenkt werden sollte. Gebildete Menschen können Antworten geben: auf unbequeme Fragen und Wunden in der Identität stiftenden Vergangenheit und auf die Fragen der Fremden heute.
Hier könnte ich meine Gedanken abschließen, doch geht es hier erst los. Wer von sich aus, frei, eine Antwort geben soll, kann eine falsche Antwort geben, kann eine unpassende Antwort geben oder es kann wohl auch mehrere richtige Antworten geben. Geschichte ist keine Millionenshow. Auch der Publikumsjoker mit Mehrheitsentscheidungen bringt uns nicht unbedingt weiter. Und so hoffe ich, dass wir einander noch oft treffen, zum Gedenken, zum Lernen, zum Diskutieren, zum Ringen um die richtige Antwort.