Worte anlässlich des Gedenkens der Novemberprogrome 1938, 9.11.2021 Regina Polak, Wien
10/11/21 Stellungnahmen | Praxis
Wenn wir heute der Novemberpogrome gedenken, erinnern wir uns an jene Ereignisse zwischen dem 7. und 13. November 1938 in Deutschland und Österreich, die für die Jüdinnen und Juden Europas ein neues Kapitel nationalsozialistischer Gewalt aufschlugen: Diese Tage markieren den Übergang von der Diskriminierung und Entrechtung zur systematischen Verfolgung, Beraubung und Vertreibung. Diese Taten fanden nicht im Geheimen statt, sondern waren ein öffentlicher Vorgang. Unter Beteiligung der Bevölkerung und vor den Augen der internationalen Berichterstattung standen Hundertausende Jüdinnen und Juden einer aufgehetzten Meute gegenüber und erlitten Schläge, Erniedrigungen, die Zerstörung ihrer Wohnungen, Häuser und Geschäfte sowie Totschlag und Mord. 1 Die Novemberpogrome waren, wie Raphael Gross es nennt, die „Katastrophe vor der Katastrophe“. Sie bildeten den Auftakt und den Probelauf des NS-Regimes zur systematischen Ermordung von Millionen Juden. Sie waren in ihrem öffentlichen Charakter der erste und sichtbarste Teil der Shoa. 2 Man hätte alarmiert sein können und müssen.
Bis heute werden die mörderischen Ereignisse dieser Zeit in der Erinnerungskultur, in öffentlichen Ansprachen und Reden regelmäßig als „monströse Verirrungen“ oder „Zivilisationsbruch“ betrachtet. Man spricht vom „Unvorstellbaren“, vom „Unbegreiflichen“, vom „Abgrund des Bösen“. Indem man die Täter und Taten solcherart dämonisiert und aus dem Bereich des eigenen Lebens, der eigenen Welt externalisiert, jedenfalls nicht konkret benennt, versucht man den Ereignissen dieser Zeit die Sprengkraft des Schreckens zu nehmen. Das können und dürfen unsere Vorfahren, Väter und Mütter, Groß- und Urgroßeltern nicht getan haben! Das kann und darf in einer so hoch entwickelten Kultur, wie es die europäische und insbesondere die deutsche Kultur damals waren, nicht geschehen sein!
Bis heute werden die mörderischen Ereignisse dieser Zeit in der Erinnerungskultur, in öffentlichen Ansprachen und Reden regelmäßig als „monströse Verirrungen“ oder „Zivilisationsbruch“ betrachtet. Man spricht vom „Unvorstellbaren“, vom „Unbegreiflichen“, vom „Abgrund des Bösen“. Indem man die Täter und Taten solcherart dämonisiert und aus dem Bereich des eigenen Lebens, der eigenen Welt externalisiert, jedenfalls nicht konkret benennt, versucht man den Ereignissen dieser Zeit die Sprengkraft des Schreckens zu nehmen. Das können und dürfen unsere Vorfahren, Väter und Mütter, Groß- und Urgroßeltern nicht getan haben! Das kann und darf in einer so hoch entwickelten Kultur, wie es die europäische und insbesondere die deutsche Kultur damals waren, nicht geschehen sein!
Für mich ist diese emotionale und sprachliche Abwehr zunächst eine verständliche Reaktion. Sieht und hört man in historischen Bild- und Tondokumenten dieser Zeit die geifernde, hasserfüllte Meute, die z.B. in Wien in den Novembertagen 1938 Jüdinnen und Juden und deren Besitz attackiert haben, könnte man tatsächlich den Eindruck bekommen, dass diese Menschen vom Teufel geritten waren. Doch auch der Teufel müsste von Menschen, die sich einem aufgeklärten Denken verpflichtet wissen, säkularisiert werden. So sieht es zumindest der Sozialpsychologe Harald Welzer. 3 Wir müssen versuchen, diese Ereignisse so gut es möglich ist, mit klarer und nüchterner Vernunft zu rekonstruieren und zu verstehen. Denn für die Opfer dieser Verbrechen waren Gewalt, Totschlag und Mord nicht unvorstellbar, sondern mörderische Realität. Um der Verantwortung den Opfern gegenüber gilt es die Ereignisse und Taten, die verantwortlichen Täter konkret zu benennen. Aber auch um der Gefahr der Wiederholung, die niemals ausgeschlossen werden kann, zu widerstehen, nicht zuletzt um unserer selbst willen, dürfen wir nicht ausweichen.
Ohne Versuche des Verstehens kann es nämlich geschehen, dass wir die Schuld, die unsere Vorfahren auf sich geladen haben, prolongieren oder dass wir und vor allem andere, insbesondere Jüdinnen und Juden, für diese Schuld bezahlen müssen, dass wir und andere Menschen, erneut und wieder Jüdinnen und Juden, an dieser Schuld leiden. Oder wie Exodus 34,7 solche transgenerationalen Schuldzusammenhänge beschreibt: Er nimmt Schuld, Frevel
1Dieser Abschnitt paraphrasiert bzw. zitiert Raphael Gross: November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe. München 2013, 9-11.
2 Ibido.
3 Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst. Frankfurt am Main 2021, 91. und Sünde weg, aber er spricht nicht einfach frei. Er sucht die Schuld der Väter (und Mütter) bei den Söhnen (und Töchtern) und Enkeln heim, bis zur dritten und vierten Generation.“ Die Heimsuchung besteht darin, dass Schuld und Sünde, die man nicht wahrnimmt, bearbeitet, anerkennt und bereut, Folgen für die nachfolgenden Generationen haben.
Einen solchen Versuch, die Shoa rational zu verstehen, habe ich bei dem jüdisch-polnischen Soziologen Zygmunt Bauman gefunden. 4 Für ihn sind die Shoah und die Prozesse, die zu ihr geführt haben, weder ein dämonischer noch zivilisatorischer Rückschritt in die Barbarei, sondern eine mögliche Konsequenz, die der modernen Zivilisation innewohnt. Er schreibt: „Der Holocaust wurde inmitten der modernen, rationalen Gesellschaft konzipiert und durchgeführt, in einer hochentwickelten Zivilisation und im Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen: er muss daher als Problem dieser Gesellschaft, Zivilisation und Kultur betrachtet werden.“5
Mit zahlreichen Belegen, die den modernen Charakter der Shoa zeigen, begründet er diese Behauptung. So lässt sich in Auschwitz z.B. die „sachlich-nüchterne Ausweitung des modernen Fabrik- und Industriesystems erkennen: Statt Güter zu produzieren, wurden aus dem Rohstoff Mensch Leichen produziert, die man in Einheiten pro Tag säuberlich in Schaubildern festhalten konnte.“ Das weitverzweigte europäische Eisenbahnnetz wurde zum Transporteur menschlichen Frachtgutes. „In den Gaskammern erstickten die Opfer im Blausäuregas, das die weltweit führende deutsche Chemieindustrie erzeugt hatte. Ingenieure konstruierten Krematorien, die Bürokratie arbeitete mit Elan und Effizienz. Die Shoah war ein Paradebeispiel für perfekt organisiertes „social Engineering““.6
Aus der Sicht der damaligen Zeit waren die Elemente der Shoah also durchaus „normal“, wie Bauman schreibt – „normal“ im Sinne von „vertraut, gründlich zu beschreiben und zu klassifizieren“7 . Vor allem waren sie kohärent mit den Zielvorstellungen, Prioritäten und inhärenten Visionen der Moderne: dem Streben nach dem optimierten Menschen, der perfekten Gesellschaft und dem beständigen Fortschritt durch Wissenschaft und Technik.
Eine solche Sicht lässt manche von Ihnen vielleicht zu Recht erschrecken. Mich zumindest hat sie sehr erschreckt, denn das hieße, dass auch unsere moderne Gesellschaft und Welt nach wie vor in Gefahr ist, Menschen zu vernichten, vielleicht sogar sich selbst zu vernichten. Denn die Ziele, Prioritäten und Visionen der Moderne wurden nach 1945 meines Wissens nur von einigen wenigen Intellektuellen wie Giorgio Agamben, Vilém Flusser und eben Zygmunt Bauman hinterfragt und in ihrer Relevanz für die Genese der Shoa erkannt. Eine breite öffentliche Diskussion dazu hat bis heute nicht stattgefunden. Im Gegenteil: Visionen vom Menschen, der durch soziales Engineering und digitale Technik optimiert wird; die Vorstellung mittels Technik und Wissenschaft Gesellschaft zu perfektionieren; der Wahn vom ewigen Wirtschaftswachstum; die Bürokratisierung sämtlicher Lebensbereiche im Zeichen von Effizienz und Erfolg, jüngst auch die Idee, die Klimakatastrophe durch Geo-Engineering abzuwenden, feiern fröhliche Urstände. Die Werte der Moderne sind lebendig wie nie zuvor. Die Pandemie hat sie zwar bei vielen Menschen erschüttert, aber umfassende Konsequenzen sind ausständig.
Wohlgemerkt: Bauman vertritt nicht die Ansicht, dass die Shoa das Paradigma oder das generelle Scheitern der Moderne darstellt. Moderne Zivilisation bedeutet auch den Fortschritt lebensrettender Medizin, die Mehrung des Wohlstands für viele, den Kampf gegen die Armut,
4 Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung: Die Moderne und der Holocaust. Hamburg, 4. Auflage, 1994.
5 Bauman, Dialektik, 10.
6 Die ZItate bzw. Paraphrasen stammen aus Bauman, Dialektik, 22, der Henry L: Feingold: How Unique is the Holocaust?, in: Alex Grobman/Daniel Landes: Genocide. Critical Issues of the Holocaust, Los Angeles 1983, 399400, zitiert
7 Bauman, Dialektik, 22.
die Entstehung der Menschenrechte, sie bedeutet Kunst und Kultur und elaboriertes Wissen.8 Aber dieselbe Moderne hat eine zweite Seite, sie ist janusköpfig. Sie bedeutet auch Ausbeutung, Todeslager, Krieg und vor allem Grausamkeit: „Diese ist auch heute nicht verschwunden, sie wird nur effizienter verwaltet als früher“9 , und ist für uns im Westen weniger deutlich sichtbar. Diese Kehrseite der modernen Zivilisation wird nicht nur gerne ausgeblendet, sie wird in den entrechteten, vor Krieg, Armut und Klimakatastrophen Flüchtenden buchstäblich und erneut für alle öffentlich sichtbar ausgesperrt.
In einer Zeit multipler globaler Krisen bekommt eine solche Sicht auf die Shoah also eine erschreckende Aktualität. Betrachtet man sie nicht als monströse Verirrung einer an sich heilen Zivilisation, sondern anerkennt, dass sie die „Signatur des zivilisatorischen Fortschritts“ 10 trägt, erscheinen viele der zeitgenössischen Krisenphänomene in einem anderen Licht. Denn dann besteht die ernstzunehmende Möglichkeit mörderischer Katastrophen. Die bürokratische, Politik mit geflüchteten Menschen, die diese primär als numerisches Managementproblem betrachtet, wäre dann ebenso ein Alarmsignal wie die Deponierung von Millionen Flüchtlingen an den Grenzen Europas oder in den Lagern dieser Welt. Die Produktion von wirtschaftlich „überflüssigen“ Menschen durch eine von multinationalen Konzernen beherrschte Wirtschaft müsste ebenso erschrecken wie die transhumanistischen Visionen eines digitalisierten Menschen oder die Fortsetzung einer Politik, die im globalen Konkurrenzkampf um Macht die Ressourcen unseres Planeten zerstört. Schließlich muss auch der global ansteigende Antisemitismus Angst machen und alarmieren – allem voran Jüdinnen und Juden, die auch in Europa wieder auf gepackten Koffern sitzen. Antisemitismus ist ein Indikator einer Moderne, die aus den Fugen geraten ist.
All diese Verirrungen der Moderne müssen mit Bauman betrachtet nicht notwendig in einer ultimativen Katastrophe münden. Es gibt keine zwingend notwendigen Prozesse in der Geschichte. Je genauer man hinsieht, wer wo welche Entscheidungen trifft oder verabsäumt, umso mehr erkennt man die möglichen Freiheitsgrade jedes Menschen. Aber ohne rechtzeitige Kehrtwendungen können sie der Auftakt zu Katastrophen sein, gleichsam Katastrophen vor der Katastrophe.
So gesehen können wir es uns nicht leisten, der Novemberprogrome im Modus monströser Verirrungen zu gedenken: um der Jüdinnen und Juden willen, die heute wieder bedroht sind; um der Menschen willen, deren Leben durch die Gewalt der modernen Zivilisation beschädigt und zerstört wird; um unseres bedrohten Globus willen. Solange wir in Europa in einer Vorstellung von immerwährendem Frieden und wachsendem Wohlstand gelebt haben, konnten wir die Frage nach den Zusammenhängen der Shoah mit unserer Zivilisation gleichsam unter Quarantäne halten. 11 Aber der Antisemitismus, die Klimakatastrophen, die sozialen und politischen Verwerfungen der Gegenwart holen die Schattenseiten der Moderne heute ins grelle Licht und erlauben dies nicht mehr.
Die Erinnerung an die Novemberprogrome als Katastrophe vor der Katastrophe ist also von höchster Aktualität. Sie erinnert uns an die Verantwortung, nicht aufzuhören, um das Verständnis der Ursachen der Shoah zu ringen und zugleich die Zeichen der Zeit zu erkennen. Andernfalls sind wir der Dynamik der transgenerational weitergegebenen Schuld ausgesetzt, die Ex 34,7 beschreibt. Dieser Vers droht nicht, sondern beschreibt einen Sachverhalt, der unserer Schöpfungsordnung eingeschrieben ist.
8 Weiterführung von Bauman, Dialektik, 23, der Richard L. Rubenstein: The Cunning of History, New York 1978, 91, 195, zitiert.
9 Ibido.
10 So Richard L. Rubenstein nach Bauman, Dialektik, 22-23.
11 Vgl. Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns. Frankfurt a. M. 2017, 28.
Aber Exodus 34 lässt es damit nicht bewenden. In Vers 10 lesen wir: Hiermit schließe ich einen Bund: Vor deinem ganzen Volk werde ich Wunder wirken, wie sie auf der ganzen Erde und unter allen Völkern nie geschehen sind. Das ganze Volk, in dessen Mitte du bist, wird die Taten des Herrn sehen; denn was ich mit dir vorhabe, wird Furcht erregen.
Das Erschrecken nimmt auch dieser Vers nicht zur Gänze von uns. Aber er ermöglicht es, die generationenübergreifenden Dramen und Tragödien der Geschichte in den Bund Gottes mit seinem Volk Israel eingebettet zu sehen – verbunden mit der Verheißung auf Wunder. Für mich bedeutet dies: Wenn wir als Christinnen und Christinnen bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, dass Jüdinnen und Jüdinnen nie wieder Katastrophen wie die Novemberpogrome oder die Shoah erleben müssen; wenn wir in Treue und Solidarität zu seinem ersterwählten Volk stehen; wenn wir erkennen, wie es Jesus von Nazareth in Joh 4,22 formuliert: Das Heil kommt von den Juden; wenn wir uns im Rahmen unserer Möglichkeiten bemühen, die drohenden Katastrophen zumindest zu mildern oder abzuwenden, dürfen auch wir an diesem Bund teilhaben und auf Wunder hoffen – Wunder, die wir dringend benötigen und um die wir beten dürfen.