Holocaust-Gedenktag: Name und Gesicht

„Was die Zeit tut: Sie vergrößert den Abstand, sie erleichtert die Träume von der schönen Vergangenheit, sie begünstigt die Meinung, es wäre nichts oder alles nur halb so schlimm gewesen, sie ermöglicht die Leugnung der Tatsachen, sie vermengt alle Ereignisse, sie ebnet alles ein, sie verwischt alle Spuren, sie lässt über die Blutstatt das Gras wachsen, sie macht alles museal, sie tötet die Aufmerksamkeit , sie macht gleichgültig, sie gibt den Verbrechern Hoffnung, ungeschoren davonzukommen, sie räumt die Augenzeugen weg, sie lässt sich von den Gewissenlosen gewinnen, sie vergeht und erzeugt den Anschein, schon deshalb wäre alles verziehen, sie produziert das Geschwätz über die Bewältigung der Vergangenheit, sie schafft die Möglichkeit, aus Leidensgeschichten Unterhaltung zu machen.
Was die Zeit nicht tut: Sie heilt keine einzige Wunde, sie macht nichts ungeschehen, sie tröstet nicht über das abgerissene Leben, sie ändert keine winzige Kleinigkeit am ungeheuren Nichts des Todes, sie gibt keine Antwort auf die Frage, warum das geschehen konnte, sie befreit das Gewissen nicht von dem Zusammenhang mit den Gewalttaten, sie ändert nichts an der Evidenz der Fakten, sie beweist nicht, dass jemand etwas gelernt hat, sie lässt sich nicht als Beleg für Erfahrung benützen, sie bringt keines der Opfer wieder, sie macht nichts wieder gut, sie liefert keinen Ersatz für die im Augenblick unersetzliche Liebe, sie macht aus fremdem Schaden nicht klug, sie schließt den Prozess zwischen Schuld und Unschuld nicht ab, sie bietet keine unendlich dauerndes Alibi, sie erlaubt es nicht, das Geständnis der Tat auf die endlose Bank zu schieben, sie schützt nicht vor dem Urteil des Ewigen Richters.“ (Gottfried Bachl)

Namen und Gesichter

Eine humane Gedächtniskultur lässt sich nicht die Abstraktion in Zahlen und Statistiken realisieren, es ist ihr die Flucht in die Anonymität der Masse versagt. Vergleiche führen zu Gleichgültigkeit, Zahlen haben kein Gesicht und keinen Namen. Eine humane Gedächtniskultur ist nicht einfach das Resultat von moralischen Postulaten oder politischer Parolen. „Aufarbeitung“ oder „Bewältigung“ der Vergangenheit liegen nicht in der Macht eines monologischen oder gar arroganten Subjekts. Das Gedächtnis des Leidens richtet sich primär auf ganz konkrete Menschen mit ihren Gesichtszügen, mit ihren Namen, mit ihrer Biographie, mit ihren Ecken und Kanten, mit ihrem Sinnentwurf. Erinnerung braucht Anschauung: das Zeugnis der Dinge, das nackte Anschauen der Gefängnisse, der Hinrichtungsorte, der Gaskammern, das Zeugnis der Wahrheit und das Wahr-Nehmen der tödlichen Ideologie. Erinnerung an die Leiden und an die Opfer des Holocaust ist mit dem Willen bzw. mit der Entscheidung zur Verantwortung, zur Wahrhaftigkeit, zur Gerechtigkeit. Aber es bleibt: Sie verantwortet dunkle Nacht. Dieser Verantwortung kann sich die Kirche nicht entziehen, kann sich die Gesellschaft nicht entziehen.
„Denen will ich in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen (Yad Vashem) geben.“ (Jes 56,5) Die Kinder-Gedenkstätte in Yad Vashem in Jerusalem gilt dem Andenken von 1,5 Millionen Kindern, die dem Holocaust zum Opfer gefallen sind. Gesichter verstorbener Kinder blicken auf Fotos entgegen. Der Blick in diese Gesichter kann nicht neutral oder distanziert bleiben. Das unmittelbare „Aug in Auge“, „von Angesicht zu Angesicht“ beinhaltet eine Dringlichkeit, eine ethische Verpflichtung und Forderung, die im „Mich-Angehen des anderen Menschen“ wurzelt. Diese Forderung geht aus vom anderen Menschen, genauer: von der Tatsache, dass der Andere verwundbar und sterblich ist. Das Antlitz ist nicht die sichtbare Oberfläche des Gesichts des Anderen, sondern die Bitte, die aus der Existenz des Anderen spricht: du wirst mich nicht töten. Die Ohnmacht dieser Bitte hat jedoch den Rang eines Befehls: du darfst mich nicht töten (Emmanuel Levinas). Flammen von fünf Kerzen - Symbole der Seelen der Kinder - werden ungezählte Male reflektiert. Im Hintergrund erklingen die Namen der Kinder, ihr Alter und ihr Geburtsort. Yad Vashem will den Toten eine Stimme in der Gegenwart geben. Gesichter, Stimmen, Hände der Opfer klagen Apathie und stumpfe Gleichgültigkeit an.
Erinnerung ist ein Unternehmen unterscheidender Spurenlese, des Ausschau-Haltens nach dem ausgesetzten Menschen, nach dem leidenden Gott. Es bleibt das Schweigen in der Nacht, es bleibt die ehrfürchtige Ratlosigkeit gegenüber dem Leid und dem Bösen. Diese Ratlosigkeit ist nicht mit Resignation oder mit der Vergleichgültigung und Verharmlosung aller Bosheiten in der Geschichte zu verwechseln. Es wäre fatal, wenn im Schweigen und in der Ratlosigkeit die Sieger von gestern heute noch einmal triumphieren würden. Es wäre zynisch, wenn unter dem Vorzeichen der Resignation die Erschlagenen in alle Ewigkeit erschlagen, die Vergessenen vergessen, die Opfer für immer besiegt, die Toten für immer tot bleiben.

Achtung oder Verachtung

An der Wurzel von Terror und Barbarei stand – so Jules Isaac - nicht selten die Anmaßung absoluter Macht über Leben und Tod, stand die Verachtung des Menschen, die Verachtung aller Traditionen, die im jüdischen Volk lebten und leben, die Verachtung der ‚anderen’. Diese Verachtung hat sich aller Kräfte, auch die der Wissenschaften, der Medizin, der Ökonomie und auch der Religion bedient. Hitler hielt Menschlichkeit für eine Schwäche, für eine Gefühlsduselei. Er wollte sich über das gewöhnliche Menschsein erheben. Das ist Hybris, Maßlosigkeit, die in den Totalitarismus, in das abgrundtiefe Verbrechen, in den Untergang führte. In der nahtlosen Verfugung von Terror und Ideologie kann es keinen Raum mehr für Freiheit, Individualität und Empathie geben (Hannah Arendt). Sie warnt auch vor einer juristisch-bürokratischen Fachsprache, weil sie Empathie und Humanität blockiere und verlässlich „die Realität nicht hineinlasse“. Wer ständig: „Ich Ich Ich“ brüllt, interessiert sich nicht für das konkrete Leben (Franz Rosenzweig). Eine idealistisch missverstandene Autonomie kennt keine Verantwortung, keine Empathie und auch keine Verwundbarkeit.
Der Gedenktag an die Opfer der Shoah ist für Christen verbunden mit dem Eingedenken in die Verstrickung in Schuldzusammenhänge des Antisemitismus. Die Jahrhunderte lang tradierten antijüdischen Stereotypen in der christlichen Theologie, v. a. die Anklage des Gottesmordes trugen zum Gefühl der Selbstgerechtigkeit der Christen bei, trugen bei den Christen zu einer Mentalität bei, die sich vor der notwendigen Solidarität mit den ausgegrenzten und nach und nach auch dem Tod preisgegebenen Opfern des nationalsozialistischen Regimes drückte. Das Bewusstsein der Glaubenssolidarität der Christen mit den Juden war nicht oder viel zu wenig vorhanden. Und es gab zu wenig, viel zu wenig Gerechte. Politische Naivität, Angst, eine fehlgeleitete Theologie, die über Jahrhunderte hinweg die Verachtung des jüdischen Volkes gelehrt hatte, und mangelnde Liebe haben viele Christen damals veranlasst, gegenüber dem Unrecht und der Gewalt zu schweigen, die jüdischen Menschen in unserem Land angetan wurden.
Die Kirche trägt den jahrhundertelang gepflogenen Antijudaismus als mahnenden Teil ihrer Geschichte mit. Das Aufbrechen dieser Strukturen ist eine bleibende Aufgabe und kann nicht ungeschehen gemacht werden. Die Kirche sieht ihre unsagbaren Verstrickungen und ihren Anteil von Schuld am Antisemitismus der Nationalsozialisten. Es bleibt: Sie verantwortet dunkle Nacht. Diese Verantwortung kann sich die Kirche nicht entziehen, kann sich die Gesellschaft nicht entziehen.
Als christliche Kirchen warnen wir vor zunehmenden Hassbotschaften (nicht nur im Internet) bzw. Antisemitismus und prangern die Tendenz an, die Ereignisse des Holocaust zu verharmlosen, zu bezweifeln oder gar zu leugnen. Verachtung und Hass entwickeln sich allmählich aus Worten, Stereotypen und Vorurteilen - durch rechtliche Ausgrenzung, Entmenschlichung und Gewalteskalation. An diesem Tag des Gedenkens bringen wir für die Opfer dieses schrecklichsten Verbrechens Respekt und Trauer zum Ausdruck.
Bischof Manfred Scheuer

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