Dieckmann, Detlef „DIE NEUE BIBELÜBERSETZUNG SOLL DEM GEGENWÄRTIGEN GESPRÄCH MIT JÜDINNEN UND JUDEN GERECHT WERDEN.“

Seit den achtziger Jahren wuchs in den Vorbereitungsgruppen des deutschen evangelischen Kirchentags die Überzeugung, dass es einen Bedarf für eine neue Bibelübersetzung gibt. Denn keine der vielen deutschsprachigen Übersetzungen berücksichtigte die neuesten exegetischen Meinungen und die Veränderungen, die in der Theologie, in der Gesellschaft und in den Sprachgewohnheiten der Menschen feststellbar waren. Deshalb haben die Kirchentagsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter die biblischen Texte für den Kirchentag stets neu ins Deutsche übertragen und sich dabei die folgenden vier Kriterien auferlegt:
1 „Die Kirchentagsübersetzung soll dem Wortlaut der Bibeltexte in ihrer hebräischen oder griechischen Originalfassung gerecht werden.“
2 „Sie soll (ein besonders wichtiges Kriterium) eine frauengerechte Sprache haben, d.h. sie soll die in den Texten selbst genannten oder nicht ausdrücklich genannten, aber mit gemeinten Frauen sichtbar machen und ebenso Frauen heute als angesprochen erkennbar machen.“
3 „Sie soll dem gegenwärtigen Gespräch mit Jüdinnen und Juden gerecht werden bzw. – bescheidener – Respekt vor ihrem Lesen der Bibel erweisen.“
4 „Sie soll eine gegenwärtig verstehbare Sprache haben. [...]“
Diese Kriterien blieben auch für die beiden Projekte gültig, die aus den Kirchentagsübersetzungen erwachsen sind: Für die vierbändige Ausgabe der liturgischen Texte in „gerechter Sprache“ von 1997 bis 2001 ebenso wie für das groß angelegte Projekt einer Übersetzung der kompletten Bibel ab 2001. Weil in den Diskussionen um die Bibel in gerechter Sprache die Aufmerksamkeit oft allein auf dem Aspekt der frauengerechten Sprache liegt, bin ich froh, im Kontext dieser Zeitschrift einen Schwerpunkt auf die Gerechtigkeit gegenüber dem christlich-jüdischen Gespräch setzen zu können.
Respekt vor der jüdischen Lektüre der Bibel
Bei dem dritten Kriterium geht es darum, dass die Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache in Anwesenheit des Judentums geschieht als jenem Volk, dem Gott nie den Bund gekündigt hat, sondern stets die Treue hält. Wenn die Bibel in gerechter Sprache dem „gegenwärtigen Gespräch mit Jüdinnen und Juden“ soweit wie überhaupt möglich gerecht werden soll, dann heißt das für die Übersetzerinnen und Übersetzer etwa, dass sie keine Theologie weiter zu schreiben, die von einem angeblich im Alten Testament rächenden und gewalttätigen, im Neuen Testament dagegen barmherzigen und verzeihenden Gott redet – so als gäbe es im Alten Testament keine Barmherzigkeit oder Sündenvergebung und im Neuen Testament keine Gewalt-Texte. Es soll keine Tradition weitergeführt werden, in der alttestamentliche Texte entweder christlich okkupiert oder achtlos beiseite gelegt werden.
Der Respekt vor der jüdischen Lektüre der Hebräischen Bibel wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die Texte der hebräischen Bibel nicht aus einer christlichen Perspektive übersetzt werden und nicht sogleich christologisch überformt oder lediglich als Verheißung gelesen werden, der die Erfüllung im Neuen Testament korrespondiert. Was das bedeuten könnte, werden wir gleich anhand eines Übersetzungsvorschlags für Jes 52,13–53,12 sehen.
Die jüdische Perspektive zu berücksichtigen, heißt auch wahrzunehmen, dass die schriftliche Tora nach jüdischer Auffassung ohne die mündliche Tradition unvollständig ist und trotz des Holocausts kein Dokument einer untergegangenen Kultur ist, sondern im lebendigen Zusammenhang von Auslegung und Anwendung steht. Meiner Ansicht ergibt sich daraus, dass die Übersetzerinnen und Übersetzer mindestens einen jüdischen Kommentar heranziehen sollten, der die rabbinischen Diskussionen um die Texte wiedergibt – was meiner Ansicht nach ohnehin für jede Alttestamentlerin und jeden Alttestamentler selbstverständlich sein sollte.
Zum Beispiel: der Gottesknecht
Jes 53 gehört zu jenen Texten, die wir Christinnen und Christen unwillkürlich christologisch hören. Das liegt daran, dass verschiedene Abschnitte aus Jes 53 eine zentrale Stellung in der Theologie und in der liturgischen Tradition des Christentums haben. Das Christentum hat sich diese Texte angeeignet, um mit ihm das Leiden und Sterben Jesu Christi zu deuten. Damit ist jedoch die Gefahr verbunden, dass die eigene Würde dieses alttestamentlichen Textes nicht beachtet wird, der ja weit vor der Passion begegnet und zunächst in seinem eigenen Kontext verstanden werden will. Wenn Jes 53 nur noch christologisch, nur noch als Verheißung des Messias Jesus verstanden wird, dann werden die jüdischen und deutlich näher am alttestamentlichen Text entwickelten Deutungen überdeckt, so dass der Text dem Judentum enteignet wird.
Diese Überlegungen haben Jürgen Ebach bei der Übersetzung von Jes 52,13–53,12 geleitet, die im Folgenden der Luther-Übersetzung von 1984 gegenübergestellt wird: (Beispiel als pdf-Dokument herunterladen)
Dadurch, dass Jürgen Ebach das Wort „Knecht“ (hebr. äwäd) durch die Wendung „die Gestalt, die mir aufrichtig dient“ mit den entsprechenden weiblichen Pronomen ersetzt, wird jene Hörgewohnheit aufgebrochen, die den Knecht selbstverständlich mit einem männlichen Individuum identifiziert. Dadurch wird der Text anschlussfähig an jene Interpretationen, die in der Knechts-Gestalt ein Kollektivum sehen: das Volk Israel oder ein Teil davon. Liest man Jes 52f in seinem Zusammenhang, so ist das eine nahe liegende Deutung, denn in 41,8f wird Israel explizit als Knecht bezeichnet.
Wer ist die Knechtsgestalt?
Diese Knechts-Gestalt Israel befindet sich im exilisch-nachexilischen Buch „Deuterojesaja“ (=Jes 40-55) in einer Situation zwischen Verzagtheit und neuer Hoffnung, zwischen dem Gefühl, bei der Zerstörung Jerusalems und der Wegführung in das babylonische Exil 586/ 87 v.Chr. von Gott verlassen worden zu sein, und dem wachsenden Vertrauen zu jenem Gott, der das Exil 539 beendet hat und nun sein Volk heimführen und getröstet wissen will. Nach der Überzeugung der Israeliten hat Gott den Perserkönig Kyros als Werkzeug eingesetzt, um die Neubabylonier zu vertreiben, unter deren Herrschaft die Weggeführten in Israel leben mussten. Nun sammelt Gott wieder die Israeliten wie ein Hirte seine verlorenen Schafe, hilft seinem verzagten Volk auf, löst es aus und rehabilitiert es vor den Augen der Völker. Die Verbannten können zurückziehen nach Jerusalem bzw. Israel – eine Möglichkeit, von der viele, die sich nach 50 Jahren in der Gola in Babylon gut eingerichtet hatten, verständlicherweise keinen Gebrauch machen wollten.
Stellen wir uns nun vor, ein Häuflein Israeliten zieht aus Babylon fort, Jerusalem entgegen – erfüllt von der Trauer des Abschieds, von der immer noch wachen Sehnsucht nach Jerusalem und dem Land und vor allem von einem Gefühl großer Unsicherheit. Sie ziehen durch ein geschundenes Land, in dem nur die ärmste Bevölkerungsschicht geblieben war, und gelangen schließlich zu der verwundeten Stadt Jerusalem, die schon ab Jes 52,1ff. im Mittelpunkt des Interesses stand. Gott sieht das Entsetzen in den Gesichtern der Heimkehrenden und nimmt in 52,13–15 einerseits das Erschrecken über diesen Anblick auf (V.14), und verheißt dieser verwüsteten Gestalt andererseits eine großartige Zukunft, die alle Völker in Erstaunen versetzen wird (VV.13.15).
Ab 53,1 antworten die Israeliten auf diese Gottesrede. Angesichts der zertrümmerten Stadt, dieser gefolterten Gestalt, können sie diese optimistischen Vorhersagen kaum glauben (V.1). Die zerstörte Stadt kommt ihnen vor wie ein verdorrter Keimling oder ein Mann bzw. eine Frau, die von einer Krankheit entstellt ist und voller Schmerzen sein muss. In VV.2f. könnte zum Ausdruck kommen, dass die Exilierten bisher vermieden haben, sich das entsetzliche Bild des vernichteten Jerusalems vorzustellen. Nun aber können sie dem nicht mehr ausweichen und erkennen, dass Jerusalem ihrer Verschuldungen (VV.5ff.) und ihrer Verbrechen wegen gelitten hat. Diese Denkfigur, dass die Zerstörung Jerusalems und die Deportation ins Exil eine Folge der sozialen und religiösen Verfehlungen Israels ist, kennen wir auch sonst aus dieser Zeit. Der Gedanke des Schuldig-Seins wird soweit gesteigert, dass die Stadt als unschuldig Leidende erscheint.
In V.10 scheint dies alles Vergangenheit zu sein: die Gestalt ist nun geheilt und wird viele Nachkommen haben. Sie ist erlöst von aller Qual. Ab V.11b spricht nun wieder Gott und bestätigt, dass die Gestalt stellvertretend für die Schuld anderer gelitten hat. Er sagt vorher, dass die Knechts-Gestalt Israel nach diesen Erfahrungen für das Recht eintreten wird.
Die Deutung des jüdischen Bibelwissenschaftlers Roland Gradwohl unterscheidet sich von der bisher dargestellten Interpretation in der Zuordnung der Rollen der Sprechenden. Nach Gradwohl sprechen in 53,1–6 nicht Vertreterinnen und Vertreter des jüdischen Volkes, sondern jene Könige und Völker, von denen in 52,15 die Rede war. Daraus ergibt sich eine sehr überzeugende Deutung, wie ich finde: 53,1–6 stellt in visionärer Weise dar, dass sich jene Völker, die Jerusalem und Juda zerstört haben, ihrer Schuld bewusst werden. Sie bekennen, dass sie Israel als von Gott Geschlagenen betrachteten und dabei verdrängten, dass sie selbst dieses Land zerstört haben, nicht zuletzt, um die eigene Lust an Gewalt zu befriedigen (V.5). Nach diesem Schuldbekenntnis wird in VV.7ff. von einer objektiven Stimme angefügt, dass Gott Israel wieder geheilt und ihr einen Zukunft gegeben hat (V.10).
Neue Interpretationen jenseits eingefahrener Deutungsmuster
An diesen beiden Interpretationen wird sichtbar, dass die Übersetzung in gerechter Sprache den Text für Deutungsmöglichkeit öffnet, die abseits der im Christentum eingefahrenen, christologischen Leseweise liegen. Wenn die Knechtsgestalt, wie es Jes 41,7 nahe legt und im Judentum gedeutet wird, das Volk Israel ist, dann handelt Jes 53 nicht mehr exklusiv von der Verheißung eines männlichen Individuums, das aufgrund unser Schuld leiden muss. Vielmehr geht es dann um die Schmerzen, die das jüdische Volk beim Untergang Jerusalems und Judas erlitten und die transparent sind auf das Leiden dieses Gottesvolkes vom Exodus bis hin zu den mittelalterlichen und neuzeitlichen Verfolgungen. Nach der von Roland Gradwohl dargestellten Lektüremöglichkeit leiht Jes 53,1ff Nichtisraeliten eine Sprache, die eigene Verstrickung in das Leiden des jüdischen Volkes zu bekennen, und bringt gleichzeitig zum Ausdruck, dass Gott sein Volk nie verlassen, sondern ihm immer wieder Nachkommen gegeben hat (V.10) – selbst nach dem Holocaust. Es kann befreiend sein, eine solche Sprache für ein eigenes Schuldbekenntnis zu finden.
Auch in einem anderen Sinn wurde dieser Text von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Praxiserprobung als befreiend und tröstend empfunden: Wenn Jes 53 nicht mehr ausschließlich als Verheißung eines einzelnen, unschuldigen Mannes gelesen wird, der die Folgen unserer Verfehlungen trägt, sondern als ein Text, der das schon geschehene Leiden des Volkes Israel zur Sprache bringt, können tief sitzende Schuldgefühle im Zusammenhang mit der Passion Christi geheilt werden und sich in Frieden umwandeln. Zugleich werden wir zu der oft verschütteten Erkenntnis befreit, dass auch die ersten Christinnen und Christen (und vielleicht schon Jesus selbst) mit Hilfe alttestamentlicher Texte wie Jes 53 etwas interpretiert haben, was bereits geschehen ist bzw. als innerweltlich unausweichlich schien, und dass das Leiden und der Tod Jesu kein immer schon feststehender Beschluss Gottes gewesen ist.
Wird Jes 53 in seinem eigenen literarischen und historischen Kontext gelesen, dann wird erst deutlich, mit welcher Kühnheit das Neue Testament die alttestamentliche Rede von Israel als dem Sohne bzw. der Knecht-Knechtsgestalt Gottes auf Jesus übertragen hat. Jesus, so behaupten die neutestamentlichen Schriften, ist in der Weise Sohn Gottes und Knecht Gottes, wie es das Alte Testament z.B. in Ps 2 oder Jes 53 in Bezug auf Israel darstellt.
Für uns Christinnen und Christen ist es selbstverständlich geworden, dass Jesus der Sohn und Knecht Gottes ist, während uns die Einsicht abhanden gekommen ist, dass diese Aussagen zuerst und nach wie vor für Israel gelten. Der geborene Jude Jesus heißt „Sohn Gottes“: „wie Israel – in gleicher innerer Bindung Gottes an beide, beider an Gott; in gleicher Verpflichtung des Sohnes, als Knecht Gottes unter den Menschen des eigenen Volkes und aller Völker zu wirken.“ (Friedrich-Wilhelm Marquardt). Diese enge Verbindung zwischen dem jüdischen Volk und Jesus als einem Mitglied dieses Volkes wieder zu entdecken, dazu könnte eine neue Übersetzung von Texten wie Jes 53 beitragen.
Literatur
Jürgen Ebach, Karfreitag. Das Buch Jesaja (52,13–15) 53,1–12. Zum Text, in: Die Feste im Kirchenjahr. Gottesdienste und Erläuterungen zum Feiern in gerechter Sprache, Gütersloh 2004, S. 90–31
Erhard Domay und Hanne Köhler, der gottesdienst. Liturgische Texte in gerechter Sprache, Bd.4, Die Lesungen, Gütersloh 2001, S.212–214
Roland Gradwohl, Bibelauslegung aus jüdischen Quellen, Bd. 2, Die alttestamentlichen Predigttexte des 5. und 6. Jahrgangs, Stuttgart 32002, 254–291
Friedrich-Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie, Bd. 2, München 1991 (Zitat S. 52)

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