Heftige Kontroverse um „100 Missverständnisse“
07/02/23 Stellungnahmen | Praxis
„Ein großer Teil des jüdischen Publikums empfindet die Ausstellung in ihrer jetzigen Form als untragbar“, konstatierte Oskar Deutsch, der Präsident der IKG-Wien, und nicht nur Paul Lendvai verlangte sogar die Schließung der Ausstellung „100 Missverständnisse über und unter Juden“, die noch bis 4. Juni im Jüdischen Museum Wien (JMW) läuft.
Laut Barbara Staudinger, seit Juli 2022 Direktorin, steht diese Ausstellung „programmatisch für die Neuausrichtung des JWM.“ Die Kontroverse eskalierte bis zu persönlichen Angriffen auf die Historikerin und Judaistin, sodass neun österreichische Holocaust-Überlebende, darunter Robert Schindel, Timothy und Franziska Smolka, in einem Brief an IKG-Präsident Deutsch und Bürgermeister Michael Ludwig sowie den Aufsichtsrat des JWM nach Sachlichkeit rufen und „Toleranz und Respekt“ fordern. „Kritik ist immer wichtig“, schreiben sie, „aber nichts rechtfertigt Rufmord und Hetze!“
Die Ausstellung rückt „Stereotype augenzwinkernd in den Fokus, parodiert kitschige Klischees und beschreitet neue Wege des Erinnerns, die aus dem Rahmen einer vermeintlich ‚angemessenen‘ Erinnerungskultur fallen.“ Missverständnisse sind etwa „die Überhöhung des ‚jüdischen Familiensinns‘, des ‚jüdischen Lernens‘, einer klischeehaften Vorstellung ‚jüdischen Lebens‘ oder die Traurigkeit, die allem, was ‚jüdisch‘ ist, anhaftet“. Es werden aber auch Missverständnisse unter Jüdinnen und Juden aufgegriffen. Als „erste ihrer Art, die sich dezidiert dem Philosemitismus“ widmet, der „zweiten Seite der Medaille des Antisemitismus“ (Staudinger), ist sie für das christlich-jüdische Gespräch von großer Relevanz, ist doch Romantisierung, Idealisierung und Typisierung des angeblich „Jüdischen“ in „gutmeinenden“ christlichen Kreisen zu weit verbreitet.
Über weite Strecken löst die Ausstellung ihr Anliegen ein, bringt bemerkenswerte (Kunst)Werke erstmals nach Wien, regt zum Nachdenken, besonders über sich selbst, und zum Schmunzeln an. „Lachen wir doch gemeinsam über Missverständnisse“, wollte Staudinger erreichen. Doch zu vielen ist beim Besuch das Lachen vergangen. Einige Kunstwerke provozieren, was ja auch Aufgabe von Kunst ist, durch Tabubruch, um etablierte Praktiken und Einstellungen aufzubrechen. Das trifft besonders für das Video der australischen Künstlerin Jane Korman „Dancing Ausschwitz“ aus 2009 zu, in dem die Künstlerin, ihr Vater und Auschwitz-Überlebender sowie dessen Enkelkinder in Auschwitz und anderen Vernichtungsorten auf Erde mit der Asche der Ermordeten, also der einzig für sie vorhandenen Gräber, tanzen. Mit mehr Ehrerbietung den Ermordeten gegenüber und daher nicht verstörend, aber nicht minder augenzwinkernd hat der israelische Oberrabbiner Israel Meir Lau auf die Frage nach seinen Rachegelüsten geantwortet: „Meine Rache sind meine (damals) 16 Enkelkinder“, In Wien, das als „Täter-Hauptstadt“ bis heute kein Schoa-Museum hat, wo die Errichtung der Shoah Namensmauern 2021 nur durch den 20jährigen Einsatz des aus Wien vertriebenen Kurt Yakov Tutter möglich geworden ist, wo es bei Schulexkursionen nach Ausschwitz wiederholt zum Eklat kommt, in einer Zeit, in der ein Journalist in Ebensee aus dem Gasthaus geworfen wird, weil er die Gedenkkultur hochhalten will, ist nachvollziehbar, dass „Dancing Auschwitz“ zu viele primär empört. Das Video führt vor Augen, dass alles möglich ist, und kann so eine Haltung der Gleichgültigkeit fördern. So wird alles möglich. Die Intention der Verantwortlichen korreliert zu wenig mit der Reaktion von Besucher:innen, vielleicht auch, weil es nicht das einzige provozierende Kunstwerk ist. Die Collagen eines Bildes von Leichen aus den Todeslagern mit dem eines nackten Frauenhintern oder eines Bildes von ausgemergelten KZ-Insassen mit der Werbung für ein Getränk sind nicht mehr provokant, sondern wegen ihrer Pietätlosigkeit nur verstörend.
Im Video bei Nr. 45 wird ein Kind in eine bizarre Maschine geschoben. Nach einiger Zeit verspritzt der Betreiber mit einem an die Maschine angeschlossenen Schlauch Blut. Schließlich präsentiert er strahlend den von der Maschine produzierten Stapel Mazzes. Dem Besucher lag das Gesehene im Magen – vielleicht auch inmitten der aktuellen Kindermissbrauch-Berichten über Teichtmann & Co. Wie geht es erst jemandem, der oder die das Thema nicht erkennt, das sich hinter „Jüdinnen und Juden sind überempfindlich“ (Nr.45) verbirgt: Der israelische Künstler Tamir Zadok parodiert den Ritualmordvorwurf, wonach Jüdinnen und Juden christliche Kinder töten würden, weil sie deren Blut für die Herstellung von Mazzes brauchen.
Der Erläuterungstext beschränkt die Verbreitung der Ritualmordlegende auf Europa und das 20. Jahrhundert, tatsächlich besteht sie leider im 21. Jahrhundert weiter und ist außerhalb Europas in islamischen Ländern präsent.
Die Beziehung des Textes zum jeweiligen Missverständnis erschließt sich nicht immer. „Jüdinnen und Juden dürfen Israel nicht kritisieren“ (Nr. 52) wird erläutert mit „Wenn Jüdinnen und Juden es wagen, zu widersprechen“, was eigentlich einer Bestätigung gleichkommt. Die dortigen „antizionistischen Begleitschilder“ (laut Staudinger „leider durchgerutscht“) mussten aufgrund der Kritik abgeändert werden.
Das vielleicht größte Manko der Ausstellung ist die verkürzte Darstellung dessen, was als Missverständnis angeprangert werden soll. So ist die ausführliche Beschreibung des „Bilderverbots“ im Katalog treffend recherchiert, ihre Verknappung in der Ausstellung (Nr. 54) verdreht jedoch die Aussage. Das Gleiche gilt für den abgespeckten Text der Ausstellung zur „Black List“ (Nr. 24), der nichts zum religiösen Hintergrund der Kontroverse beiträgt, ganz im Gegensatz zum Text im Katalog.
Manchmal zeigt sich einfach ein Mangel an Recherche. So sind einige Aussagen zu Vorschriften für koschere Lebensmittel einfach falsch: künstliche Zusatzstoffe sind, solange sie nicht tierischen Ursprungs sind, in koscheren Speisen sehr wohl erlaubt, und ein Kaschrut-Verbot gentechnisch veränderter Pflanzen und Tieren gibt es auch nicht. Auch die Aussage, dass Mirjam zusammen mit den Frauen singend durch das Rote Meer gezogen ist, entspricht keinem Bibelzitat (Ex 15,20) sondern ist der Phantasie der Autorin; der Gesang am Meer sowohl von Moses wie danach von Mirjam wurde nach dem Durchqueren des Meers angestimmt.
Aus christlich-jüdischer Sicht ist Nr. 38 („Der christlich-jüdische Dialog ist ein Dialog“) klassisch museal aus vergangener Zeit abgehandelt. Der abgebildete „Kennenlernquiz“ des „lesbisch-feministischen Schabbeskreises“ aus den 80iger Jahren des vorigen Jahrhunderts hilft heute noch, Unsicherheit in der Begegnung mit Jüdinnen und unangemessene Erwartungen aufzudecken, verdeckt aber den Stand des christlich-jüdischen Dialogs im 21. Jahrhundert und führt so in die Irre.
Als einen Beitrag zum Dialog sollte man religiöse Aussagen oder solche zu jüdischem Leben von Juden gegenlesen lassen. Dies könnte einige falsche Aussagen verhindern.
Staudinger selbst hat angekündigt, in die Ausstellung in den kommenden Wochen "eine weitere textliche Kontextebene" einzuziehen.
Martin Jäggle, Willy Weisz
Laut Barbara Staudinger, seit Juli 2022 Direktorin, steht diese Ausstellung „programmatisch für die Neuausrichtung des JWM.“ Die Kontroverse eskalierte bis zu persönlichen Angriffen auf die Historikerin und Judaistin, sodass neun österreichische Holocaust-Überlebende, darunter Robert Schindel, Timothy und Franziska Smolka, in einem Brief an IKG-Präsident Deutsch und Bürgermeister Michael Ludwig sowie den Aufsichtsrat des JWM nach Sachlichkeit rufen und „Toleranz und Respekt“ fordern. „Kritik ist immer wichtig“, schreiben sie, „aber nichts rechtfertigt Rufmord und Hetze!“
Die Ausstellung rückt „Stereotype augenzwinkernd in den Fokus, parodiert kitschige Klischees und beschreitet neue Wege des Erinnerns, die aus dem Rahmen einer vermeintlich ‚angemessenen‘ Erinnerungskultur fallen.“ Missverständnisse sind etwa „die Überhöhung des ‚jüdischen Familiensinns‘, des ‚jüdischen Lernens‘, einer klischeehaften Vorstellung ‚jüdischen Lebens‘ oder die Traurigkeit, die allem, was ‚jüdisch‘ ist, anhaftet“. Es werden aber auch Missverständnisse unter Jüdinnen und Juden aufgegriffen. Als „erste ihrer Art, die sich dezidiert dem Philosemitismus“ widmet, der „zweiten Seite der Medaille des Antisemitismus“ (Staudinger), ist sie für das christlich-jüdische Gespräch von großer Relevanz, ist doch Romantisierung, Idealisierung und Typisierung des angeblich „Jüdischen“ in „gutmeinenden“ christlichen Kreisen zu weit verbreitet.
Über weite Strecken löst die Ausstellung ihr Anliegen ein, bringt bemerkenswerte (Kunst)Werke erstmals nach Wien, regt zum Nachdenken, besonders über sich selbst, und zum Schmunzeln an. „Lachen wir doch gemeinsam über Missverständnisse“, wollte Staudinger erreichen. Doch zu vielen ist beim Besuch das Lachen vergangen. Einige Kunstwerke provozieren, was ja auch Aufgabe von Kunst ist, durch Tabubruch, um etablierte Praktiken und Einstellungen aufzubrechen. Das trifft besonders für das Video der australischen Künstlerin Jane Korman „Dancing Ausschwitz“ aus 2009 zu, in dem die Künstlerin, ihr Vater und Auschwitz-Überlebender sowie dessen Enkelkinder in Auschwitz und anderen Vernichtungsorten auf Erde mit der Asche der Ermordeten, also der einzig für sie vorhandenen Gräber, tanzen. Mit mehr Ehrerbietung den Ermordeten gegenüber und daher nicht verstörend, aber nicht minder augenzwinkernd hat der israelische Oberrabbiner Israel Meir Lau auf die Frage nach seinen Rachegelüsten geantwortet: „Meine Rache sind meine (damals) 16 Enkelkinder“, In Wien, das als „Täter-Hauptstadt“ bis heute kein Schoa-Museum hat, wo die Errichtung der Shoah Namensmauern 2021 nur durch den 20jährigen Einsatz des aus Wien vertriebenen Kurt Yakov Tutter möglich geworden ist, wo es bei Schulexkursionen nach Ausschwitz wiederholt zum Eklat kommt, in einer Zeit, in der ein Journalist in Ebensee aus dem Gasthaus geworfen wird, weil er die Gedenkkultur hochhalten will, ist nachvollziehbar, dass „Dancing Auschwitz“ zu viele primär empört. Das Video führt vor Augen, dass alles möglich ist, und kann so eine Haltung der Gleichgültigkeit fördern. So wird alles möglich. Die Intention der Verantwortlichen korreliert zu wenig mit der Reaktion von Besucher:innen, vielleicht auch, weil es nicht das einzige provozierende Kunstwerk ist. Die Collagen eines Bildes von Leichen aus den Todeslagern mit dem eines nackten Frauenhintern oder eines Bildes von ausgemergelten KZ-Insassen mit der Werbung für ein Getränk sind nicht mehr provokant, sondern wegen ihrer Pietätlosigkeit nur verstörend.
Im Video bei Nr. 45 wird ein Kind in eine bizarre Maschine geschoben. Nach einiger Zeit verspritzt der Betreiber mit einem an die Maschine angeschlossenen Schlauch Blut. Schließlich präsentiert er strahlend den von der Maschine produzierten Stapel Mazzes. Dem Besucher lag das Gesehene im Magen – vielleicht auch inmitten der aktuellen Kindermissbrauch-Berichten über Teichtmann & Co. Wie geht es erst jemandem, der oder die das Thema nicht erkennt, das sich hinter „Jüdinnen und Juden sind überempfindlich“ (Nr.45) verbirgt: Der israelische Künstler Tamir Zadok parodiert den Ritualmordvorwurf, wonach Jüdinnen und Juden christliche Kinder töten würden, weil sie deren Blut für die Herstellung von Mazzes brauchen.
Der Erläuterungstext beschränkt die Verbreitung der Ritualmordlegende auf Europa und das 20. Jahrhundert, tatsächlich besteht sie leider im 21. Jahrhundert weiter und ist außerhalb Europas in islamischen Ländern präsent.
Die Beziehung des Textes zum jeweiligen Missverständnis erschließt sich nicht immer. „Jüdinnen und Juden dürfen Israel nicht kritisieren“ (Nr. 52) wird erläutert mit „Wenn Jüdinnen und Juden es wagen, zu widersprechen“, was eigentlich einer Bestätigung gleichkommt. Die dortigen „antizionistischen Begleitschilder“ (laut Staudinger „leider durchgerutscht“) mussten aufgrund der Kritik abgeändert werden.
Das vielleicht größte Manko der Ausstellung ist die verkürzte Darstellung dessen, was als Missverständnis angeprangert werden soll. So ist die ausführliche Beschreibung des „Bilderverbots“ im Katalog treffend recherchiert, ihre Verknappung in der Ausstellung (Nr. 54) verdreht jedoch die Aussage. Das Gleiche gilt für den abgespeckten Text der Ausstellung zur „Black List“ (Nr. 24), der nichts zum religiösen Hintergrund der Kontroverse beiträgt, ganz im Gegensatz zum Text im Katalog.
Manchmal zeigt sich einfach ein Mangel an Recherche. So sind einige Aussagen zu Vorschriften für koschere Lebensmittel einfach falsch: künstliche Zusatzstoffe sind, solange sie nicht tierischen Ursprungs sind, in koscheren Speisen sehr wohl erlaubt, und ein Kaschrut-Verbot gentechnisch veränderter Pflanzen und Tieren gibt es auch nicht. Auch die Aussage, dass Mirjam zusammen mit den Frauen singend durch das Rote Meer gezogen ist, entspricht keinem Bibelzitat (Ex 15,20) sondern ist der Phantasie der Autorin; der Gesang am Meer sowohl von Moses wie danach von Mirjam wurde nach dem Durchqueren des Meers angestimmt.
Aus christlich-jüdischer Sicht ist Nr. 38 („Der christlich-jüdische Dialog ist ein Dialog“) klassisch museal aus vergangener Zeit abgehandelt. Der abgebildete „Kennenlernquiz“ des „lesbisch-feministischen Schabbeskreises“ aus den 80iger Jahren des vorigen Jahrhunderts hilft heute noch, Unsicherheit in der Begegnung mit Jüdinnen und unangemessene Erwartungen aufzudecken, verdeckt aber den Stand des christlich-jüdischen Dialogs im 21. Jahrhundert und führt so in die Irre.
Als einen Beitrag zum Dialog sollte man religiöse Aussagen oder solche zu jüdischem Leben von Juden gegenlesen lassen. Dies könnte einige falsche Aussagen verhindern.
Staudinger selbst hat angekündigt, in die Ausstellung in den kommenden Wochen "eine weitere textliche Kontextebene" einzuziehen.
Martin Jäggle, Willy Weisz