PAULUS – BEGRÜNDER DES CHRISTENTUMS ODER GLÄUBIGER JUDE? Von John T. Pawlikowski OSM
02/03/11 Theologie
Das Jubiläumsjahr 2008 zu Ehren des Dienstes und der Schriften des Apostel Paulus bietet den christlichen Kirchen eine Gelegenheit, ihre Standpunkte über seine Rolle in der Kirchengeschichte zu überprüfen. Über Jahrhunderte tendierte eine auf der Apostelgeschichte beruhende vorherrschende Überlieferung, das christliche Verständnis der paulinischen Sicht des Judentums und der Tora zu dominieren.
Diese vorherrschende Überlieferung beginnt mit dem endgültigen Bruch des Stephanus mit dem Judentum in Kapitel 7 der Apostelgeschichte. Dann beginnen bis Kapitel 11 so genannte jüdische Christen von dieser Überlieferung zu verschwinden. Später fallen diese dann im Anschluss an Vision des Petrus, durch die er überzeugt wurde, seine vorherige Zugehörigkeit zu jüdischer Observanz aufzugeben, ganz aus der Geschichte.
Von diesem Punkt an konzentriert sich diese vorherrschende Überlieferung ausschließlich um die Heiden als das neue Gottesvolk und das geographische Zentrum der Christenheit bewegt sich an Stelle von Jerusalem nach Rom. Auf diese Weise entstand ganz zu Beginn der Christenheit die Haltung der Kirche, das Judentum ist ersetzt und sogar widerrufen. Paulus gilt als der erste Bote dieser Lehre. Diese vorherrschende Überlieferung aus der Apostelgeschichte hat auch das katholische liturgische Leben beeinflusst, denn es dominiert die Lesungen während der Osterzeit.
Diese vorherrschende Überlieferung beginnt mit dem endgültigen Bruch des Stephanus mit dem Judentum in Kapitel 7 der Apostelgeschichte. Dann beginnen bis Kapitel 11 so genannte jüdische Christen von dieser Überlieferung zu verschwinden. Später fallen diese dann im Anschluss an Vision des Petrus, durch die er überzeugt wurde, seine vorherige Zugehörigkeit zu jüdischer Observanz aufzugeben, ganz aus der Geschichte.
Von diesem Punkt an konzentriert sich diese vorherrschende Überlieferung ausschließlich um die Heiden als das neue Gottesvolk und das geographische Zentrum der Christenheit bewegt sich an Stelle von Jerusalem nach Rom. Auf diese Weise entstand ganz zu Beginn der Christenheit die Haltung der Kirche, das Judentum ist ersetzt und sogar widerrufen. Paulus gilt als der erste Bote dieser Lehre. Diese vorherrschende Überlieferung aus der Apostelgeschichte hat auch das katholische liturgische Leben beeinflusst, denn es dominiert die Lesungen während der Osterzeit.
DAS KLASSISCHE BILD: ZWEI GRUPPEN DER URKIRCHE
Dieser klassische Blickwinkel auf Paulus und das Judentum wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich bestärkt durch die Schriften von F.C. Baur. In seinem klassischen Werk "Paulus, der Apostel Jesu Christi" (1845) erörterte Baur, dass es in der Urkirche nur zwei Parteien gab. Die eine waren die jüdischen Christen, deren Leitfigur Petrus war, die anderen die heidnischen Christen, die auf Paulus als ihren spirituellen Führer setzten. In Baurs Perspektive waren die jüdischen Christen gefangen in einer engen Gesetzlichkeit, die sie für die universalistischen Elemente in der Lehre Jesu, wie sie von Paulus verfochten wurden, blind machte.
Paulus wollte keine neue religiöse Institution gründen
Die jüngere biblische Wissenschaft musste sich gehörig anstrengen, um aus den Begrenzungen dieser vorherrschenden Überlieferung auszubrechen, wie sie von Baur und seinen Schülern wiederbelebt wurde. Diese Bemühungen sind Teil einer viel breiteren Neuinterpretation der frühen Jahre des christlich-jüdischen Verhältnisses. Eine wachsende Übereinstimmung in der jüngeren Wissenschaft besteht darauf, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass Jesus während seines Lebens eine völlig neuartige religiöse Institution abseits des Judentums begründen wollte. Wir können von einem endgültigen Bruch zwischen Christenheit und Judentum nicht vor der Mitte der zweiten Jahrhunderts sprechen, in Teilen der östlichen Christenheit sogar erst später.
Wissenschaftler, die in dieser neuen Forschung beteiligt sind, zeichnen ein viel vielschichtigeres und differenzierteres Bild des ersten Jahrhunderts der jüdisch-christlichen Beziehung als Baur dies tat. In Wirklichkeit bestanden viele verschiedene Gruppen im weiten Zelt des Judentums. Sie verbanden weiterhin jüdische Praktiken mit der Annahme des Wegs, wie er von Jesus verkündet worden war. Selbst der so genannte „Christus-Gottesdienst” gefährdete für jene, die daran teilnahmen, nicht automatisch das Band mit dem Judentum, wie manche Wissenschaftler festhalten. Bedauernswerterweise haben weder die systematische Theologie noch die Liturgiewissenschaft dieser tief greifenden Neuorientierung des christlich-jüdischen Themas in der zeitgenössischen Bibelwissenschaft viel Aufmerksamkeit geschenkt.
Einen treffenden Kommentar zu dieser neuen Annäherung an Paulus und das Judentum in der neueren Bibelwissenschaft hat der verstorbene Raymond Brown in einem populärwissenschaftlichen Vortrag kurz vor seinem Tod formuliert. Brown sagte, dass er nun zur Überzeugung gelangt sei, dass, wenn Paulus einen Sohn gehabt hätte, dieser ihn beschneiden hätte lassen. Dieses neue Denken über die Haltung des Paulus gegenüber dem Judentum in den Worten des christlichen Glaubens begann mit dem jüngst verstorbenen Bibelwissenschaftler in Harvard und späteren Lutherischen Bischof von Stockholm Krister Stendahl. In einem bedeutenden Beitrag 1963 in der Harvard Theological Review mit dem Titel „Der Apostel Paulus und das verinnerlichte Gewissen des Westens” (The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West) argumentierte Stendahl, das klassische Verstehen von Paulus als Gegner der Tora – eine Interpretation die in der christlichen theologischen Selbstdefinition besonders im Protestantismus eine zentrale Rolle spielte – trage nur wenig Ähnlichkeit mit dem, was Paulus wirklich über die fortgesetzte jüdische rituelle Praxis bei Christen dachte. Sein Werk wurde von einer beeindruckenden Zahl von Wissenschaftlern aufgegriffen, unter ihnen E.P. Sanders, Peter Tomson, James D.G. Dunn, John Gager, Daniel Harrington, Jeryy L. Sumney and Lloyd Gaston. Später stießen verschiedene jüdische Wissenschaftler zu ihnen, vor allem Alan Segal.
Nun beginnt in wichtigen Teilen der paulinischen Wissenschaft ein Bild von Paulus heraufzusteigen, der noch sehr ein Jude ist, der die jüdische Tora immer noch sehr wertschätzt und anscheinend keinen Einwand gegen ihre weitere Befolgung durch jüdische Christen hat, so lange ihre grundlegende Ausrichtung in Jesus und seinen Lehren gründet, und der gegen Ende seines Dienstes immer noch damit kämpft, seine Verständnis von der Neuheit des Christusereignisses mit dem Fortbestand des jüdischen Bundes in Ausgleich zu bringen. Das ist offensichtlich in den Kapiteln 9 bis 11 des Römerbriefs, die das Zweite Vatikanische Konzil im Kapitel 4 von Nostra Aetate zitiert, wo wir die Erklärung des Konzils zu diesem neuen Verständnis der kirchlichen Beziehung mit dem jüdischen Volk finden. Es ist auch möglich, wenn auch viel weniger gesichert, dass manche der paulinischen Schriften, vor allem seine christologischen Hymnen, ihre Wurzeln im Kontakt mit der jüdischen Mystik jener Zeit haben, wiewohl Paulus seine unterscheidenden Interpretationen wohl ergänzt hätte.
Einige Bibelwissenschaftler, die an dieser neuen Paulusforschung beteiligt sind, gehen sogar so weit festzuhalten, dass Paulus die Befolgung der Tora so hoch schätzte, das er fürchtete, der Versuch der Heiden, sie zu praktizieren, würde ihren ursprünglichen Geist entstellen. Ich gebe zu, eine solche Sicht öffnet den Rahmen wissenschaftlicher Beweise ein bisschen weit, aber das wird gegenwärtig in einigen wissenschaftlichen Kreisen diskutiert.
JÜDISCHE CHRISTEN, EIN STARKER TEIL DER FRÜHEN KIRCHE
Einer der Wissenschaftler im Zentrum dieses neuen Bildes von Paulus ist John G. Gager. Er ist der Gründer der wichtigen Studiengruppe der Universitäten Oxford und Princeton über die „Trennung der Wege”. In einem jüngeren Essay hat Gager die neue Sicht von Paulus so zusammengefasst, dass diese seiner Meinung nach die bisherige vorherrschende Erzählung auf Basis der Apostelgeschichte ersetzen müsste, die für sehr lange Zeit christliche Theologie und Gottesdienst beherrscht hat. Und in der Tat sollte das Paulus Jubiläum 2008 eine ausgezeichnete Gelegenheit dafür sein, diese neue Sicht sowohl den Menschen in den Kirchebänken vorzustellen als auch für eine ernsthafte Diskussion zwischen Theologen und Liturgikern über seine Auswirkungen für das Selbstverständnis und den Gottesdienst der Kirchen.
Gagers Zusammenfassung umfasst die folgenden Punkte:
(1) Er unterstreicht deutlich die Vielfalt der Verhaltensweisen untern den Anhängern von Jesus, die weiterhin die Tora beachteten. Sie waren weit entfernt von jeder Einheitlichkeit in ihrer Observanz der Tora.
(2) Jüdische Christen verschwanden nicht wirklich von der Bühne nach der Vision des Petrus, wie es uns der Autor der Apostelgeschichte glauben machen will. Sie blieben für viele Jahrhunderte eine wesentliche Kraft in den christlichen Kirchen. Vor allem in den Regionen Syriens und weiter waren sie weit davon entfernt, eine vereinzelte Minderheit zu sein. In ihrer Haltung und Praxis wurden sie nicht als häretisch angesehen.
(3) Die frühe Christenheit richtete ihren geographischen Focus nicht nur einzig auf Rom, anders als es die Apostelgeschichte darstellt. Sie bewegte sich eher in viele Richtungen in jedes Gebiet des Mittelmeerraums und darüber hinaus. An Orten wie etwa Syrien scheint die jüdische Christenheit tatsächlich sogar die tonangebende Stelle in der Kirche besetzt zu haben.
(4) Gager weist gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern wie etwa Braun jede Vorstellung zurück, das Paulus das Judentum und jene, die jüdische Christen gewesen sind, verworfen hätte. Eher hat dieser seine Energien für sein Engagement bei den heidnischen Gläubigen eingesetzt, bei denen er – warum auch immer – der Meinung war, sie hätten in ihrer Art zu glauben nicht die Verpflichtung, die Befolgung der Tora auf sich zu nehmen. Der Autor der Apostelgeschichte, so Gager, lässt aus eigenem Antrieb das jüdische Christentum durch Paulus herabstufen. Gager meint wohl, obwohl er es nicht ausdrücklich sagt, dass in Wirklichkeit der Autor der Apostelgeschichte und nicht Paulus selbst der Begründer der antijüdischen Form des Christentums ist, die so stark (und negativ) eine Kraft in der christlichen Geschichte geworden ist, durch die man so oft Handlungen des sündigen Antijudaismus und geradewegs antisemitischen Hass in den unterschiedlichen christlichen Gemeinschaften erleben konnte. Paulus stehe in Wirklichkeit für eine Haltung der „zwei Türen” in der Erlösung, mit unterschiedlichen Pfaden für Juden und Heiden.
DIE ABSICHT DES AUTORS DER APOSTELGESCHICHTE
(5) Vor allem wegen des Bildes von Paulus, das der Autor der Apostelgeschichte geschaffen hat, wurde Paulus als Erzfeind der jüdischen Christen bekannt, als jene Person, die deren Rechtmäßigkeit als unverfälschten Ausdruck des Christentums gänzlich untergrub. Dieses Bild hat auch in jüdische Kreise Eingang gefunden, wo Paulus traditionellerweise auch von Wissenschaftlern, die eine positive Haltung gegenüber Jesus und seiner Lehre einnahmen, als der Gründer der christlichen Kirche mit ihrem antijüdischen Herz gesehen wurde. So erzählte etwa die jüdische Philosophin Hannah Arendt einmal von der Kluft, die sie zwischen der Lehre Jesu in den Evangelien und dem Christus der paulinischen Texte spürte. (John G. Gager, „Did Jewish Christians See the Rise of Islam“, in: The Ways That Never Parted: Jews And Christians In Late Antiquity And The Middle Ages, hrsg. von Adam H. Becker and Annette Yoshiko Reed, 2003, 366-367)
Gager fügt noch einen Punkt zum visonären Erlebnis des Petrus, das gemäß Apostelgeschichte 11 zu einer grundlegenden Änderung in seinem Herzen geführt hat, was die fortgesetzte jüdische Praxis der Nachfolger Jesu betraf. Er stellt die Historizität dieses Berichts in Frage und glaubt, dass diese Geschichte durch den Autor der Apostelgeschichte entwickelt wurde, um seine eigene antijüdische Perspektive zu untermauern.
Gager argumentiert bei dieser Sichtweise mit einem Abschnitt aus den späteren pseudo-clementinischen Schriften, in den sich Petrus beschwert, dass „jemand es unternommen hat, meine Worte zu entstellen, durch bestimmte verschlungene Auslegungen, für eine Abschaffung des Gesetzes, als ob ich selbst so etwas gedacht hätte – Gott verbitte es! Um eine solche Haltung gegen das Gesetz Gottes einzunehmen, das durch Mose ausgesprochen war und dessen ewige Geltung durch unseren Gott bestätigt war.” (vgl. die Übersetzung und Diskussion in Wayne Meeks, The Writings Of St. Paul, 178ff) Gager interpretiert das als „Petrus’ Zorn” gegen den Autor der Apostelgeschichte.
DIE JÜDISCHE TORA ZÄHLT, ABER CHRISTUS NOCH MEHR
Um diesen kurzen Überblick über neue Sichtweisen zu Paulus abzuschließen, müssen wir an die ursprüngliche Frage zurückkehren: War er der Gründer des Christentums oder vielmehr ein gläubiger Jude? Man müsste sagen, die Antwort ist beides. Es gibt inzwischen nur mehr wenige Zweifel, dass Paulus gegenüber dem Judentum und dessen Tora eine positive Haltung einnahm. Er persönlich befolgte wahrscheinlich weiterhin viele ihrer Vorschriften und wäre wahrscheinlich entsetzt gewesen über die „kahle” Form des Christentums, das von seiner jüdischen Seele getrennt worden wäre, wie es sich in schließlich in vielen Teilen der Kirche weiterentwickelt hat, vor allem in einem wichtigen Teil der Vätertradition ohne die rechte Haltung für das jüdische Volk und seinen Glauben. In dieser Hinsicht blieb er ein „gläubiger Jude”.
Aber er glaubte auch, dass das Kommen von Christus eine grundlegende Neuausrichtung des Glaubens gebracht hat in eine Richtung, die in der Christuserfahrung wurzelt. Für Paulus bedeutete die Erfahrung des auferstandenen Christus eine persönliche Veränderung. Paulus wollte sicherlich, dass Juden Jesus als den Messias Israels und auch der Völker anerkannten, aber das bedeutete keine Ablehnung der Tora. Tatsächlich wäre aus der paulinischen Sicht ein Gegensatz zwischen Jesus als Messias und der Tora wirklich ziemlich lächerlich, denn manchmal so scheint es zieht er eine Parallele zwischen dem Gesetz und der Frohbotschaft von Gottes Handeln in Jesus Christus und er setzt sie sogar gleich.
Paulus Kampf mit den so genannten jüdischen Christen, aus der Baur fälschlicherweise eine grundlegende Auseinandersetzung gemacht hat, war in der Tat wohl nur ein viel begrenzterer Disput mit jenen jüdischen Christen, die sich weigerten, Paulus’ Sicht von einer grundlegenden Neuorientierung für Gläubige in Christus zu akzeptieren. Für Paulus kam es grundlegend auf die jüdische Tora an, aber noch mehr kam es auf Christus an. Und deswegen meinte er, die Mitgliedschaft im Bund auf die Heidenvölker ausdehnen zu können ohne ihnen die Verpflichtung zu jüdischen rituellen Handlungen aufzuerlegen, so hoch Paulus diese Praxis auch schätzte.
Für Paulus wird Israel endgültig durch Gottes endzeitlichen Messias gerettet werden. Römer 9 bis 11 zeigt deutlich, dass Paulus erwartete, dass Ganz Israel Erlösung zuteil wird. Er zeigt, dass er den gegenwärtigen „Ungehorsam” des jüdischen Volks wohl als wesentlichen Bestandteil des göttlichen Plans für die Erlösung der Menschheit betrachtet. Es gibt sogar einen Weg, auf dem die jüdische Zurückweisung von Jesus als Messias Israels als „christologisches Opfer” betrachtet werden könnte, in Parallele zur Trennung Jesu von Gott dem Vater auf Golgotha.
In diesem Sinn kann Paulus der Gründer des Christentums genannt werden. Aber auf gänzlich andere Weise als seine klassischen Darstellungen, als jemand, der das Judentum und seine Praxis aus dem christlichen Glauben ausgestoßen hat, als jemand der Christus der Tora absolut vorgezogen hat.
John T. Pawlikowski OSM ist Professor für Sozialethik and Direktor des katholisch-jüdischen Studienprogramms an der Catholic Theological Union Chicago. Pawlikowski war von 2001 bis 2008 Präsident des Internationalen Rats der Christen und Juden ICCJ.
Übersetzung: Markus Himmelbauer
Dieser klassische Blickwinkel auf Paulus und das Judentum wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich bestärkt durch die Schriften von F.C. Baur. In seinem klassischen Werk "Paulus, der Apostel Jesu Christi" (1845) erörterte Baur, dass es in der Urkirche nur zwei Parteien gab. Die eine waren die jüdischen Christen, deren Leitfigur Petrus war, die anderen die heidnischen Christen, die auf Paulus als ihren spirituellen Führer setzten. In Baurs Perspektive waren die jüdischen Christen gefangen in einer engen Gesetzlichkeit, die sie für die universalistischen Elemente in der Lehre Jesu, wie sie von Paulus verfochten wurden, blind machte.
Paulus wollte keine neue religiöse Institution gründen
Die jüngere biblische Wissenschaft musste sich gehörig anstrengen, um aus den Begrenzungen dieser vorherrschenden Überlieferung auszubrechen, wie sie von Baur und seinen Schülern wiederbelebt wurde. Diese Bemühungen sind Teil einer viel breiteren Neuinterpretation der frühen Jahre des christlich-jüdischen Verhältnisses. Eine wachsende Übereinstimmung in der jüngeren Wissenschaft besteht darauf, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass Jesus während seines Lebens eine völlig neuartige religiöse Institution abseits des Judentums begründen wollte. Wir können von einem endgültigen Bruch zwischen Christenheit und Judentum nicht vor der Mitte der zweiten Jahrhunderts sprechen, in Teilen der östlichen Christenheit sogar erst später.
Wissenschaftler, die in dieser neuen Forschung beteiligt sind, zeichnen ein viel vielschichtigeres und differenzierteres Bild des ersten Jahrhunderts der jüdisch-christlichen Beziehung als Baur dies tat. In Wirklichkeit bestanden viele verschiedene Gruppen im weiten Zelt des Judentums. Sie verbanden weiterhin jüdische Praktiken mit der Annahme des Wegs, wie er von Jesus verkündet worden war. Selbst der so genannte „Christus-Gottesdienst” gefährdete für jene, die daran teilnahmen, nicht automatisch das Band mit dem Judentum, wie manche Wissenschaftler festhalten. Bedauernswerterweise haben weder die systematische Theologie noch die Liturgiewissenschaft dieser tief greifenden Neuorientierung des christlich-jüdischen Themas in der zeitgenössischen Bibelwissenschaft viel Aufmerksamkeit geschenkt.
Einen treffenden Kommentar zu dieser neuen Annäherung an Paulus und das Judentum in der neueren Bibelwissenschaft hat der verstorbene Raymond Brown in einem populärwissenschaftlichen Vortrag kurz vor seinem Tod formuliert. Brown sagte, dass er nun zur Überzeugung gelangt sei, dass, wenn Paulus einen Sohn gehabt hätte, dieser ihn beschneiden hätte lassen. Dieses neue Denken über die Haltung des Paulus gegenüber dem Judentum in den Worten des christlichen Glaubens begann mit dem jüngst verstorbenen Bibelwissenschaftler in Harvard und späteren Lutherischen Bischof von Stockholm Krister Stendahl. In einem bedeutenden Beitrag 1963 in der Harvard Theological Review mit dem Titel „Der Apostel Paulus und das verinnerlichte Gewissen des Westens” (The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West) argumentierte Stendahl, das klassische Verstehen von Paulus als Gegner der Tora – eine Interpretation die in der christlichen theologischen Selbstdefinition besonders im Protestantismus eine zentrale Rolle spielte – trage nur wenig Ähnlichkeit mit dem, was Paulus wirklich über die fortgesetzte jüdische rituelle Praxis bei Christen dachte. Sein Werk wurde von einer beeindruckenden Zahl von Wissenschaftlern aufgegriffen, unter ihnen E.P. Sanders, Peter Tomson, James D.G. Dunn, John Gager, Daniel Harrington, Jeryy L. Sumney and Lloyd Gaston. Später stießen verschiedene jüdische Wissenschaftler zu ihnen, vor allem Alan Segal.
Nun beginnt in wichtigen Teilen der paulinischen Wissenschaft ein Bild von Paulus heraufzusteigen, der noch sehr ein Jude ist, der die jüdische Tora immer noch sehr wertschätzt und anscheinend keinen Einwand gegen ihre weitere Befolgung durch jüdische Christen hat, so lange ihre grundlegende Ausrichtung in Jesus und seinen Lehren gründet, und der gegen Ende seines Dienstes immer noch damit kämpft, seine Verständnis von der Neuheit des Christusereignisses mit dem Fortbestand des jüdischen Bundes in Ausgleich zu bringen. Das ist offensichtlich in den Kapiteln 9 bis 11 des Römerbriefs, die das Zweite Vatikanische Konzil im Kapitel 4 von Nostra Aetate zitiert, wo wir die Erklärung des Konzils zu diesem neuen Verständnis der kirchlichen Beziehung mit dem jüdischen Volk finden. Es ist auch möglich, wenn auch viel weniger gesichert, dass manche der paulinischen Schriften, vor allem seine christologischen Hymnen, ihre Wurzeln im Kontakt mit der jüdischen Mystik jener Zeit haben, wiewohl Paulus seine unterscheidenden Interpretationen wohl ergänzt hätte.
Einige Bibelwissenschaftler, die an dieser neuen Paulusforschung beteiligt sind, gehen sogar so weit festzuhalten, dass Paulus die Befolgung der Tora so hoch schätzte, das er fürchtete, der Versuch der Heiden, sie zu praktizieren, würde ihren ursprünglichen Geist entstellen. Ich gebe zu, eine solche Sicht öffnet den Rahmen wissenschaftlicher Beweise ein bisschen weit, aber das wird gegenwärtig in einigen wissenschaftlichen Kreisen diskutiert.
JÜDISCHE CHRISTEN, EIN STARKER TEIL DER FRÜHEN KIRCHE
Einer der Wissenschaftler im Zentrum dieses neuen Bildes von Paulus ist John G. Gager. Er ist der Gründer der wichtigen Studiengruppe der Universitäten Oxford und Princeton über die „Trennung der Wege”. In einem jüngeren Essay hat Gager die neue Sicht von Paulus so zusammengefasst, dass diese seiner Meinung nach die bisherige vorherrschende Erzählung auf Basis der Apostelgeschichte ersetzen müsste, die für sehr lange Zeit christliche Theologie und Gottesdienst beherrscht hat. Und in der Tat sollte das Paulus Jubiläum 2008 eine ausgezeichnete Gelegenheit dafür sein, diese neue Sicht sowohl den Menschen in den Kirchebänken vorzustellen als auch für eine ernsthafte Diskussion zwischen Theologen und Liturgikern über seine Auswirkungen für das Selbstverständnis und den Gottesdienst der Kirchen.
Gagers Zusammenfassung umfasst die folgenden Punkte:
(1) Er unterstreicht deutlich die Vielfalt der Verhaltensweisen untern den Anhängern von Jesus, die weiterhin die Tora beachteten. Sie waren weit entfernt von jeder Einheitlichkeit in ihrer Observanz der Tora.
(2) Jüdische Christen verschwanden nicht wirklich von der Bühne nach der Vision des Petrus, wie es uns der Autor der Apostelgeschichte glauben machen will. Sie blieben für viele Jahrhunderte eine wesentliche Kraft in den christlichen Kirchen. Vor allem in den Regionen Syriens und weiter waren sie weit davon entfernt, eine vereinzelte Minderheit zu sein. In ihrer Haltung und Praxis wurden sie nicht als häretisch angesehen.
(3) Die frühe Christenheit richtete ihren geographischen Focus nicht nur einzig auf Rom, anders als es die Apostelgeschichte darstellt. Sie bewegte sich eher in viele Richtungen in jedes Gebiet des Mittelmeerraums und darüber hinaus. An Orten wie etwa Syrien scheint die jüdische Christenheit tatsächlich sogar die tonangebende Stelle in der Kirche besetzt zu haben.
(4) Gager weist gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern wie etwa Braun jede Vorstellung zurück, das Paulus das Judentum und jene, die jüdische Christen gewesen sind, verworfen hätte. Eher hat dieser seine Energien für sein Engagement bei den heidnischen Gläubigen eingesetzt, bei denen er – warum auch immer – der Meinung war, sie hätten in ihrer Art zu glauben nicht die Verpflichtung, die Befolgung der Tora auf sich zu nehmen. Der Autor der Apostelgeschichte, so Gager, lässt aus eigenem Antrieb das jüdische Christentum durch Paulus herabstufen. Gager meint wohl, obwohl er es nicht ausdrücklich sagt, dass in Wirklichkeit der Autor der Apostelgeschichte und nicht Paulus selbst der Begründer der antijüdischen Form des Christentums ist, die so stark (und negativ) eine Kraft in der christlichen Geschichte geworden ist, durch die man so oft Handlungen des sündigen Antijudaismus und geradewegs antisemitischen Hass in den unterschiedlichen christlichen Gemeinschaften erleben konnte. Paulus stehe in Wirklichkeit für eine Haltung der „zwei Türen” in der Erlösung, mit unterschiedlichen Pfaden für Juden und Heiden.
DIE ABSICHT DES AUTORS DER APOSTELGESCHICHTE
(5) Vor allem wegen des Bildes von Paulus, das der Autor der Apostelgeschichte geschaffen hat, wurde Paulus als Erzfeind der jüdischen Christen bekannt, als jene Person, die deren Rechtmäßigkeit als unverfälschten Ausdruck des Christentums gänzlich untergrub. Dieses Bild hat auch in jüdische Kreise Eingang gefunden, wo Paulus traditionellerweise auch von Wissenschaftlern, die eine positive Haltung gegenüber Jesus und seiner Lehre einnahmen, als der Gründer der christlichen Kirche mit ihrem antijüdischen Herz gesehen wurde. So erzählte etwa die jüdische Philosophin Hannah Arendt einmal von der Kluft, die sie zwischen der Lehre Jesu in den Evangelien und dem Christus der paulinischen Texte spürte. (John G. Gager, „Did Jewish Christians See the Rise of Islam“, in: The Ways That Never Parted: Jews And Christians In Late Antiquity And The Middle Ages, hrsg. von Adam H. Becker and Annette Yoshiko Reed, 2003, 366-367)
Gager fügt noch einen Punkt zum visonären Erlebnis des Petrus, das gemäß Apostelgeschichte 11 zu einer grundlegenden Änderung in seinem Herzen geführt hat, was die fortgesetzte jüdische Praxis der Nachfolger Jesu betraf. Er stellt die Historizität dieses Berichts in Frage und glaubt, dass diese Geschichte durch den Autor der Apostelgeschichte entwickelt wurde, um seine eigene antijüdische Perspektive zu untermauern.
Gager argumentiert bei dieser Sichtweise mit einem Abschnitt aus den späteren pseudo-clementinischen Schriften, in den sich Petrus beschwert, dass „jemand es unternommen hat, meine Worte zu entstellen, durch bestimmte verschlungene Auslegungen, für eine Abschaffung des Gesetzes, als ob ich selbst so etwas gedacht hätte – Gott verbitte es! Um eine solche Haltung gegen das Gesetz Gottes einzunehmen, das durch Mose ausgesprochen war und dessen ewige Geltung durch unseren Gott bestätigt war.” (vgl. die Übersetzung und Diskussion in Wayne Meeks, The Writings Of St. Paul, 178ff) Gager interpretiert das als „Petrus’ Zorn” gegen den Autor der Apostelgeschichte.
DIE JÜDISCHE TORA ZÄHLT, ABER CHRISTUS NOCH MEHR
Um diesen kurzen Überblick über neue Sichtweisen zu Paulus abzuschließen, müssen wir an die ursprüngliche Frage zurückkehren: War er der Gründer des Christentums oder vielmehr ein gläubiger Jude? Man müsste sagen, die Antwort ist beides. Es gibt inzwischen nur mehr wenige Zweifel, dass Paulus gegenüber dem Judentum und dessen Tora eine positive Haltung einnahm. Er persönlich befolgte wahrscheinlich weiterhin viele ihrer Vorschriften und wäre wahrscheinlich entsetzt gewesen über die „kahle” Form des Christentums, das von seiner jüdischen Seele getrennt worden wäre, wie es sich in schließlich in vielen Teilen der Kirche weiterentwickelt hat, vor allem in einem wichtigen Teil der Vätertradition ohne die rechte Haltung für das jüdische Volk und seinen Glauben. In dieser Hinsicht blieb er ein „gläubiger Jude”.
Aber er glaubte auch, dass das Kommen von Christus eine grundlegende Neuausrichtung des Glaubens gebracht hat in eine Richtung, die in der Christuserfahrung wurzelt. Für Paulus bedeutete die Erfahrung des auferstandenen Christus eine persönliche Veränderung. Paulus wollte sicherlich, dass Juden Jesus als den Messias Israels und auch der Völker anerkannten, aber das bedeutete keine Ablehnung der Tora. Tatsächlich wäre aus der paulinischen Sicht ein Gegensatz zwischen Jesus als Messias und der Tora wirklich ziemlich lächerlich, denn manchmal so scheint es zieht er eine Parallele zwischen dem Gesetz und der Frohbotschaft von Gottes Handeln in Jesus Christus und er setzt sie sogar gleich.
Paulus Kampf mit den so genannten jüdischen Christen, aus der Baur fälschlicherweise eine grundlegende Auseinandersetzung gemacht hat, war in der Tat wohl nur ein viel begrenzterer Disput mit jenen jüdischen Christen, die sich weigerten, Paulus’ Sicht von einer grundlegenden Neuorientierung für Gläubige in Christus zu akzeptieren. Für Paulus kam es grundlegend auf die jüdische Tora an, aber noch mehr kam es auf Christus an. Und deswegen meinte er, die Mitgliedschaft im Bund auf die Heidenvölker ausdehnen zu können ohne ihnen die Verpflichtung zu jüdischen rituellen Handlungen aufzuerlegen, so hoch Paulus diese Praxis auch schätzte.
Für Paulus wird Israel endgültig durch Gottes endzeitlichen Messias gerettet werden. Römer 9 bis 11 zeigt deutlich, dass Paulus erwartete, dass Ganz Israel Erlösung zuteil wird. Er zeigt, dass er den gegenwärtigen „Ungehorsam” des jüdischen Volks wohl als wesentlichen Bestandteil des göttlichen Plans für die Erlösung der Menschheit betrachtet. Es gibt sogar einen Weg, auf dem die jüdische Zurückweisung von Jesus als Messias Israels als „christologisches Opfer” betrachtet werden könnte, in Parallele zur Trennung Jesu von Gott dem Vater auf Golgotha.
In diesem Sinn kann Paulus der Gründer des Christentums genannt werden. Aber auf gänzlich andere Weise als seine klassischen Darstellungen, als jemand, der das Judentum und seine Praxis aus dem christlichen Glauben ausgestoßen hat, als jemand der Christus der Tora absolut vorgezogen hat.
John T. Pawlikowski OSM ist Professor für Sozialethik and Direktor des katholisch-jüdischen Studienprogramms an der Catholic Theological Union Chicago. Pawlikowski war von 2001 bis 2008 Präsident des Internationalen Rats der Christen und Juden ICCJ.
Übersetzung: Markus Himmelbauer