Hahn, Ferdinand DER JUDE JESUS UND DIE FRÜHE JUDENCHRISTLICHE TRADITION

Es gibt Sachverhalte, die in der Theologie vorausgesetzt, aber nur selten wirklich thematisiert werden. Dazu gehören zweifellos das Jude-Sein Jesu und der durch und durch jüdische Charakter der ältesten christlichen Gemeinde.
1. Das Jude-Sein Jesu ist ein unbestreitbarer Tatbestand. Versuche, ihn als Galiläer in den Zusammenhang indogermanischer Bevölkerungsgruppen einzuordnen, waren ideologisch bedingt und können als wissenschaftlich haltlos bezeichnet werden. Dennoch ist genauer zu klären, was es heißt und bedeutet, dass Jesus Jude war.

1.1. Die Frage “Wer ist Jude?“ ist uralt und spielt bis heute eine zentrale Rolle, sowohl bei Einwanderungen in Israel als auch in europäischen Gemeinden angesichts der Zuwanderung aus Osteuropa. Die Antwort scheint einfach zu sein: Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren ist. Aber dabei stellt sich sofort das Problem, in welchem Status des Jude-Seins sich die Mutter befindet; denn erst in der dritten Generation gilt das Jude-Sein im Vollsinn. Grundlage der Regelung, welche die Geburt von einer jüdische Mutter erfordert, ist die seit alters gültige Bedeutung der leiblichen Zugehörigkeit zum Judentum aufgrund der Abstammung. Diese Abstammung geht letztlich auf Abraham zurückgeht.

1.2. Es wäre aber unzureichend, nur auf die genealogische Zusammengehörigkeit hinzuweisen. So wichtig sie war und ist, sie ist ihrerseits Ausdruck einer geistigen Verbundenheit, die in der gemeinsamen Erfahrung der Geschichte, im kulturellen Bewusstsein und letztlich in der religiösen Bindung besteht. Es ist sehr bezeichnend, dass auch dort, wo bei Juden die religiöse Bindung verlorengegangen ist, wie das für den säkularisierten Teil der Bevölkerung im heutigen Israel gilt, die geschichtlich-kulturelle Zusammengehörigkeit trotz aller unterschiedlichen Prägungen ein entscheidendes Bindeglied ist.

1.3. Jesus war nicht nur aufgrund seiner physischen Abstammung Jude, wie die Stammbäume des Matthäus- und des Lukasevangeliums nachdrücklich hervorheben. Er stand eben auch in der geistig-religiösen Kontinuität seines Volkes. Sein Jude-Sein ist gekennzeichnet durch die Einbindung in das Judentum im ganzheitlichen Sinn. Jude ist man eben nicht mehr oder nur noch in einem vordergründigen Sinn, wenn man sich abgesehen von der religiösen Komponente von dieser geistig-kulturellen Tradition löst, wie das bei der europäischen Emanzipationsbewegung im 19. Jahrhundert der Fall war. Diese führte folgerichtig zu Übertritten in die christlichen Kirchen.


2. Jesu Verkündigung und Wirken ist nur unter der Voraussetzung seines Jude-Seins zu verstehen. Trotz aller innovatorischen Tendenz blieb er eingebunden in die Bundesgeschichte Israels, in das typisch jüdische Gegenwartsverständnis und in die von der jüdischen Bibel und der frühjüdischen Frömmigkeit geprägte Zukunftserwartung.

2.1. Primäres Kennzeichen der Botschaft Jesu und seines Wirkens war die entschiedene Rückbindung an das Bekenntnis Israels, das Bekenntnis zu dem einen Gott, der die Welt geschaffen und der Israel in besonderer Weise durch die Geschichte geführt hat. Der Gott Jesu in seiner Einzigkeit und Ausschließlichkeit ist kein anderer als der von der Tora und den Profeten bezeugte Gott, jener Gott, der im täglichen Bekenntnis des “Schema Jisrael“ anerkannt wird. Die Offenbarung Gottes unter den Erzvätern, unter Mose und unter den Profetischen Zeugen war schlechthin grundlegend. Damit verbunden war die Erkenntnis, dass Gott nicht nur durch sein Wort sich kundgetan, sondern dass er auch konkret in der Welt gewirkt hat. Im alten Israel gab es keine abstrakte Gottesvorstellung, keine weltenferne Jenseitigkeit; bei allem eindeutigen Gegenüber von Gott und Welt, von Gott und Mensch, ging es um die Nähe Gottes und um die Spuren, die er in der Geschichte erkennbar hinterlassen hat. Nur unter Berücksichtigung dieser Sachverhaltes ist Jesu Wirken überhaupt verständlich. Gerade dies ist ein konstitutives Kennzeichen seines Jude-Seins.

2.2. Die jeweilige Gegenwart stand für Jesus wie für jeden Israeliten unter diesen Voraussetzungen. Alles, was in der Geschichte geschehen war, wies über sich hinaus und bestimmte das Heute. Es war keine vergangene Geschichte, sondern ganz bewusst eine lebendige, die Gegenwart tangierende Geschichte. Die “Erinnerung“ (zikkaron) an Geschehenes war stets Aktualisierung des Vergangenen, wie das am eindrücklichsten die Pesachliturgie bewusst macht. Entsprechend war das in Tora, Profeten und Schriften offenbarte Wort gegenwartsbezogenes Wort. Deshalb galt es, Gottes weitergehendes Wirken im konkreten, ja gerade auch im alltäglichen Leben zu erkennen. Das war im Besonderen der Dienst der Profeten. Nicht ohne Grund heißt es in Dtn 18,15: “Einen Profeten wie mich (Mose) wird dir der Herr (je und dann) erstehen lassen aus der Mitte deiner Brüder“. In diesem Sinn wusste sich auch Jesus beauftragt, Gott in der Gegenwart zu bezeugen. Er hat in seinen Gleichnissen in unerhört packender Weise die Unmittelbarkeit Gottes zur Sprache gebracht und die Nähe Gottes erfahrbar gemacht: In der Natur, im Leben jedes einzelnen Menschen und unbewusst unter den Völkern ist Gott unablässig am Werk. In einer bisher unerhörten Weise hat er seinerseits Gott ganz familiär mit “Abba“ angesprochen und diese vertraute Anrede auch seinen Anhängern gewährt, wie der ursprüngliche Anfang des Vaterunsers zeigt. Er war ein Zeuge der Zuwendung und Nähe Gottes und hat damit nur weitergeführt, aber zweifellos auch zugespitzt, was die Gottesboten vor ihm kundgetan haben.

2.3. Die genuin jesuanische Komponente kommt in seiner Zukunftsvision voll zur Geltung. Schon immer war der Glaube Israels zukunftsorientiert. Die Verheißung spielte schon in der Geschichte der Erzväter und ebenso in der Mosezeit eine entscheidende Rolle. Gott war stets der auf Israel zukommende Gott, der Gott, in dessen Ratschluss und Handeln alle Zukunft beschlossen ist. Daher wurden die Israeliten immer wieder auf Zukünftiges verwiesen. Und es gab auch immer wieder ein Stück Erfüllung des Verheißenen. So wurde das Wirken Elijas in 1. Kön 17-19 unverkennbar als eine Einlösung der erwähnten Verheißung von Dtn 18,15 verstanden und entsprechend dargestellt. Aber längst nicht alles, was angekündigt war, hatte sich bereits realisiert. Die Zusage an David und den Bestand seines Hauses, die der Profet Nathan ihm nach 2 Sam 7,14 gegeben hat, wurde als ein noch uneingelöstes Hoffnungspotential angesehen. Auch die endgültige Verwirklichung des Reiches Gottes war zur Zeit Jesu Bestandteil der Zukunftserwartung. Solange es noch Unfriede, Ungerechtigkeit, Leid und Not gab, konnte ja das Gottesreich nicht angebrochen sein, wie von jüdischer Seite bis heute hervorgehoben wird. Erst müsse alles Böse und Unheilbringende überwunden sein, bevor endlich Heil anbrechen könne. Diese Zukunftshoffnung wurde gerade in den Notzeiten vor und noch bei Jesu Auftreten in bewundernswerter Weise durchgehalten, was ebenso für die späteren Jahrhunderte der jüdischen Geschichte gilt. Von einer lebendigen Zukunftserwartung war auch Jesus erfüllt; aber anders als seine Zeitgenossen schaute er nicht in eine noch weit entfernte Zukunft oder wie Johannes der Täufer in eine unmittelbar bevorstehende Wende zu Gericht und Vollendung. Er proklamierte den sich jetzt schon ereignenden Anbruch des endzeitlichen Heils in der Gegenwart, einen Heilsanbruch mitten in der noch bestehenden Welt, trotz der nicht endgültig überwundenen Not und der immer noch bestehenden Macht der Bosheit. Er ließ das Licht der Zukunft mitten im alltäglichen Leben aufleuchten: “Wenn ich mit dem Finger Gottes Dämonen austreibe, dann ist schon das Reich Gottes zu euch gelangt“, heißt es in Lk 11,20, oder: “Das Reich Gottes ist mitten unter euch“ in Lk 17,20. Neues bricht an und das hat Konsequenzen für das menschliche Leben, wie Jesus mit seinen Taten sichtbar machte; dabei hat er sich nicht zuletzt den Außenstehenden zugewandt. Vor allem hat er einen Jüngerkreis um sich gesammelt und in seinen Nachfolgeforderungen eine neue Lebensweise verlangt. Er hat seinerseits Gebote bisweilen provokativ übertreten, wie etwa das Sabbatgebot. Er hat Bestimmungen aus der Tora neu verstanden und interpretiert, wie die sogenannten Antithesen der Bergpredigt zeigen. Nicht dass die Tora für ihn aufgehoben wäre, aber sie steht in einem neuen Kontext. Darum kann er in einem kühnen Bildwort sagen, dass ein neuer Flicken nicht auf ein altes Kleid genäht werden soll, oder dass man jungen Wein nicht in alte Schläuche gießen darf. Das gilt für Jesus durchaus auch dann, wenn der Mensch mit Leiden und Sterben konfrontiert ist; denn: “Wer sein Leben retten will, wird es verlieren, wer aber sein Leben um der Gottesherrschaft und des Evangeliums willen verliert, der wird es retten“ (Mk 8,35; vgl. Lk 18,29). Wahres Leben ist stärker als der Tod und im Sterben fallen wir in Gottes Hand. In dieser Zuversicht ist Jesus selbst trotz aller menschlichen Anfechtung in den Tod gegangen.

2.4. So viele Anhänger Jesus gefunden hat, so vielen Menschen er Heilung und Gottesnähe vermittelt hat, er hatte auch Gegner. Diese anerkannten seine Botschaft nicht, sondern verstanden sie als einen Eingriff in die Hoheit Gottes und daher als Gotteslästerung. Daher ist ihm schließlich der Prozess gemacht worden, der zu seiner Hinrichtung am Kreuz durch den römischen Präfekten führte.

2.4.1. Den Prozess Jesu kann man nur verstehen, wenn man beide Seiten wirklich ernst nimmt und das Gerichtsverfahren als eine innerjüdische Auseinandersetzung versteht. Es ging weder um Eifersucht wegen des öffentlichen Erfolges Jesu und einen darin begründeten Justizmord noch um ein Eingreifen mit Rücksicht auf die Römer wegen drohenden Aufruhrs. Es ging um die Frage, ob Jesu Anspruch, im Namen Gottes zu reden und zu handeln, legitim war oder nicht. So lag es in der Konsequenz seines Auftretens, dass hier seitens der offiziellen jüdischen Instanz eine Entscheidung gesucht und herbeigeführt wurde. Wer Jesu Vollmacht nicht anerkannte, konnte ihn letztlich nur im Sinn von Dtn 13,1-11 als falschen Profeten und Volksverführer ansehen; darauf stand aber nach dem Wortlaut dieses Textes die Todesstrafe. Wenn der Prozess in der Sicht der Jünger auf falschen Zeugenaussagen beruhte, dann ging es bei dem zweifellos echten Wort Jesu über den Tempel um dessen umstrittene Deutung. Festgehalten ist jedenfalls, dass ihm aufgrund seines Anspruchs insgesamt der Tatbestand der Gotteslästerung vorgeworfen wurde. Wenn schließlich eine Übergabe an den römischen Präfekten erfolgte, dann hing das mit der damaligen Rechtslage zusammen, da nach Joh 18,31 das Kapitalprozessrecht entzogen war. In letzter Zuspitzung ging es bei diesem Prozess um die Frage, wer Jesus ist und wieweit ihm Anerkennung gebührt. Seitdem gingen trotz gleicher Glaubensgrundlage die Wege der toratreuen Juden und der Jesusanhänger auseinander.

2.4.2. Wenn Jesus im Sinn der geltenden Ordnung der Tora verurteilt worden ist, dann stellt sich die nicht zu umgehende Frage: Hat er mit seinem Anspruch und seiner Heilsverkündigung letztlich doch den Boden des Judentums verlassen? Das ist gelegentlich behauptet worden; man hat ihn, und zwar unabhängig von aller rassischen Ideologie, als den “ersten Christen“ angesehen, der sich vom Judentum getrennt hatte und eben darum verurteilt wurde. Aber davon kann keine Rede sein. Jesu Zukunftshoffnung in ihrer Gegenwartsdimension ist aus der Profetischen Tradition erwachsen und steht vor allem im Zusammenhang mit der apokalyptischen Profetie der spätalttestamentlichen und frühjüdischen Zeit (vgl. Daniel). Er ist auch dort, wo er Neues proklamierte und verwirklichte, genuin jüdisch geblieben und hat sein Wirken im Zusammenhang mit der Tradition der hebräischen Bibel verstanden. Im Übrigen gab es im Judentum selbst gegensätzliche Meinungen, wie der Streit zwischen Pharisäern und Sadduzäern über die Auferweckung der Toten erkennen lässt. Aber Jesu Auftreten zeigte eben doch, dass er einen Anspruch erhob, der über die traditionelle Auffassung hinausging. Darum spielte schon zu seinen Lebzeiten die Anerkennung seiner Autorität und seiner Person eine ausschlaggebende Rolle, ohne dass ihm deshalb jedoch sein Jude-Sein bestritten worden wäre. Sein Auftrag und seine Botschaft waren der entscheidende Ansatz für die urchristliche Verkündigung, zumal Jesu Auferweckung als Bestätigung durch Gott verstanden wurde.


3. Die älteste christliche Gemeinde hat sich zunächst in Jerusalem gesammelt. Sie bestand aus jesusgläubigen Juden. Das gilt auch für die frühen christlichen Gemeinden, die unter Diasporajuden im hellenistischen Raum entstanden. Hier wurden dann auch ehemalige Heiden aufgenommen, aber der judenchristliche Charakter beibehalten. Erst als seit der Wende zum 2. Jahrhundert die Heidenchristen die Mehrheit darstellten, kam es zu erheblichen Veränderungen. Es wurde schon bald nicht mehr gesehen, dass die Nichtjuden in die jüdische Wurzel eingepflanzt sind, wie Paulus das in Röm 11,16-18 zum Ausdruck gebracht hat.<

3.1. Die älteste christliche Gemeinde Jerusalems war sich ihres Jude-Seins voll bewusst. Sie verstand sich als Erneuerungsbewegung innerhalb ihres Volkes. Es war für sie selbstverständlich, sich in ihrer Lebenspraxis an die herkömmlichen Formen zu halten, dabei aber Jesu Wort und Weisungen ernst zu nehmen.

3.1.1. Nicht nur die Teilnahme am Synagogengottesdienst war für sie wie für Jesus eine feste Gewohnheit. Auch an den Gebetszeiten im Tempel hat die Jerusalemer Urgemeinde nach dem Bericht der Apostelgeschichte teilgenommen. Tora und Profetenschriften waren und blieben grundlegend; sie waren zusammen mit dem Psalter die “Bibel des Urchristentums“ (von Campenhausen). Auch wenn die Profeten verstärkte Bedeutung erhalten haben und bei den Geboten der Tora Jesu Auslegung berücksichtigt wurde, handelte es sich um eine ganz und gar jüdisch geprägte Gemeinde. Sicher war sie so etwas wie eine Sondergemeinde, aber das war angesichts der zahlreichen Gruppierungen im damaligen Judentum nichts Aussergewöhnliches. Ihre Glieder verstanden sich als Anhänger Jesu und vertrauten auf dessen Heilsbotschaft, die in engem Zusammenhang mit den Profetischen Verheissungen stand. Zwar gab es, wie wir ebenfalls aus der Apostelgeschichte wissen, Auseinandersetzungen wegen der öffentlichen Weiterführung der Botschaft Jesu, was aufgrund seiner Verurteilung als unstatthaft angesehen wurde. Aber in der ältesten, aramäisch sprechenden judenchristlichen Gemeinde gab es gleichwohl keinerlei Tendenzen, sich vom Judentum abzusondern oder zu trennen.

3.1.2 Das Gesagte hebt natürlich die Eigenständigkeit dieser Gemeinde nicht auf. Alle, die ihr angehörten, waren überzeugt von Jesu Botschaft und der ihm von Gott verliehenen Autorität. Nicht zuletzt das Widerfahrnis seiner Auferstehung spielte eine zentrale Rolle. Sie wussten sich als Jünger Jesu auch selbst in den Dienst genommen und mit der Weiterverkündigung seiner Botschaft beauftragt. Entscheidend dabei war, dass sie sich als jesusgläubige Juden verstanden haben. Ihnen ging es daher um die Einbeziehung der Besonderheiten der Botschaft Jesu und des Bekenntnisses zu seiner Person in die jüdische Tradition. Es ist sehr beachtlich, in welchem Masse dieser Integrationsprozess schon in frühester nachösterlicher Zeit durchgeführt wurde. Dabei handelte es sich konsequent um eine judenchristliche Rezeption der Botschaft Jesu. Der jüdische Grundzug der eigenen Verkündigung Jesu wurde festgehalten und gleichzeitig eine judenchristliche Konzeption entwickelt, die für die Folgezeit richtungweisend war.

3.1.3 Will man im einzelnen die Eigenart dieser Konzeption beschreiben, so ist auszugehen von Jesu Vollmacht. Nicht die Messiasfrage stand zunächst im Vordergrund, sondern seine rätselhaften Worte über den Menschensohn, mit dem er jetzt eindeutig identifiziert worden ist. Es handelte sich dabei ursprünglich um eine himmlische Gestalt, um das Urbild des Menschen. Nach der Überzeugung der Urgemeinde ist dieser Menschensohn in der Person Jesu auf Erden erschienen und wird bei seiner erwarteten Wiederkunft am Gericht Gottes beteiligt sein. Auch sein Leiden und seine Auferstehung wurden im Lichte dieser Tradition verstanden: Nach Gottes Willen ging er in den Tod und durch Gottes Wirken wurde er zu ewigem Leben wiedererweckt. Sein Tod wurde im Sinn des leidenden Gottesknechts aus Deuterojesaja als stellvertretendes Sterben verstanden, das Sünde überwindet und den Zugang zu Gott öffnet. In diesem Sinn wurde auch die Messianität aufgefasst: Es war nicht der machtvolle, sondern der leidende und sterbende Jesus, der als Messias, als Heilsmittler, angesehen wurde. Im Zusammenhang damit spielte so dann das Selbstverständnis der Jüngerschaft eine wichtige Rolle: Wie in Jesu vorösterlichem Wirken ging es um die Sammlung des erneuerten Gottesvolkes aufgrund seiner Heilstat. Zeichen der Zugehörigkeit zur Gemeinde war anstelle der konkreten Nachfolge nun die von Johannes dem Täufer übernommene und im Namen Jesu vollzogene Taufe, die im Sinn von Ez 9,4 als Siegel für das künftige Heil verstanden wurde. Geprägt wurde das gemeinsame Leben insbesondere durch die Mahlgemeinschaft; es war eine Fortführung der irdischen Mahlgemeinschaften Jesu, vor allem seines Abschiedsmahles, es stand daher im Lichte des rettungsstiftenden Sterbens Jesu. Soweit die Botschaft Jesu in früher nachösterlicher Perspektive neu interpretiert wurde, blieb sie jedenfalls in engem Zusammenhang mit der überkommenen jüdischen Hoffnung und Tradition.

3.2. Ein wichtiger weiterer Schritt wurde dann von dem hellenistischen Judenchristentum vollzogen. Griechisch sprechende und griechisch beeinflusste Juden gab es auch in Jerusalem; es waren die sogenannten “Hellenisten“ im Gegensatz zu den “Hebräern“ (vgl. Apg 6). Verbreitet war das hellenistische Judentum im ganzen Mittelmeerraum mit Zentren in Alexandria, Antiochien am Orontes und Rom, aber auch an vielen anderen Orten lebten Juden.

3.2.1. Unter den Juden der hellenistischen Diaspora hat die christliche Predigt große Resonanz gefunden. So hat sich in der zweiten Hälfte des l. Jahrhunderts der Schwerpunkt der frühen Christenheit zunehmend vom aramäisch sprechenden auf das griechisch sprechende, das hellenistische Judenchristentum verlagert. Eine weitreichende Weichenstellung war hier die Aufnahme von Heiden in die christliche Gemeinde ohne Beschneidung und ohne Verpflichtung auf die Tora, also ohne gleichzeitige Integration in die jüdische Gemeinschaft. Es ging, wofür vor allem Paulus sich eingesetzt hat, um die Unmittelbarkeit des Heils für alle Menschen. Dies wurde beim Apostelkonvent auch von den Leitern der Jerusalemer Gemeinde anerkannt.

3.2.2. Von großer Bedeutung ist, dass auch das frühe hellenistische Christentum ein Judenchristentum war. Es stand in der Tradition der Diasporasynagogen. Bei aller dort erkennbaren Bereitschaft, die griechische Sprache und damit auch bis zu einem gewissen Grad griechische Denkgewohnheiten zu übernehmen, wurde das jüdische Erbe in hohem Masse bewahrt. Wir sind vor allem über die Situation der Juden in Alexandrien unterrichtet; in dieser Stadt ist auch die wichtigste Übersetzung der jüdischen Bibel in die griechische Sprache entstanden, die sogenannte Septuaginta (weil sie von 70 Schriftgelehrten übertragen wurde). Interessanterweise enthält diese Übersetzung sehr viel mehr eine Hebraisierung des Griechischen als eine Gräzisierung des Hebräischen. Dabei hat man in Alexandrien, wie vor allem der jüdische Philosoph und Theologe Philo zeigt, durchaus griechische Traditionen adaptiert. Im Grundbestand blieb die Frömmigkeit jedoch jüdisch. Entsprechend waren bis kurz vor der Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert die christlichen Gemeinden im Mittelmeerraum hellenistisch-judenchristlich geprägt, so dass auch die in dieser Zeit entstandenen neutestamentlichen Schriften mehrheitlich judenchristlich sind. Das zeigen nicht nur das Matthäus- und das Johannesevangelium, sondern ebenso Paulus und in anderer Weise der Jakobusbrief, der Hebräerbrief oder die Offenbarung des Johannes. Gewisse heidenchristliche Tendenzen zeigen sich erstmals am Ende des 1.Jahrhunderts bei Lukas oder in den von Paulusschülern abgefassten Briefen an die Kolosser und die Epheser.

3.2.3. Wie unverkennbar judenchristlich die Verkündigung im hellenistischen Raum im 1. Jahrhundert gewesen ist, zeigt der Apostel Paulus. Bei aller Bereitschaft, auf Probleme einzugehen, die durch die heidnische Herkunft vieler Gemeindeglieder entstanden sind, ist er in seinem Denken konsequent jüdisch geblieben. Das geht nicht nur aus Röm 9-11 hervor, wo es ihm um die Einbindung des Christentums in das Judentum geht, sondern in gleicher Weise aus seiner Christologie und Soteriologie, seiner Ekklesiologie und Eschatologie. Er ist gleichwohl im Unterschied zu den Vertretern der palästinischen Urgemeinde ein typischer Repräsentant des hellenistischen Judenchristentums, was besagt, dass er in vieler Hinsicht Elemente aus der Tradition des Diasporajudentums aufgenommen hat. Wie stark er als Heidenmissionar Judenchrist geblieben ist, zeigt nicht zuletzt seine Rechtfertigungslehre, bei der es um die Bedingungslosigkeit des Heilszuspruchs und den uneingeschränkten Glauben im Sinn des Vertrauens geht. Sie ist schlechterdings nur unter jüdischen Voraussetzungen zu verstehen, weswegen sich der Apostel gegenüber einer schon stärker heidenchristlich geprägten Gemeinde wie der von Korinth um eine auch für Nichtjuden verständliche Interpretation seiner Rechtfertigungsbotschaft bemüht. Er tut dies mit Hilfe seiner Ausführungen über die Weisheit der Welt und die Weisheit unter den Vollkommenen in 1 Kor 1 + 2.

3.3. Auf die Entwicklung vom ausgehenden 1. Jahrhundert an ist nicht mehr im Detail einzugehen. Die Heidenchristen gewannen zunehmend das Übergewicht, und eine Rückbindung an das Judentum schien ihnen überflüssig. Immerhin sind Tendenzen zur Abstoßung des Alten Testaments, wie dies vor allem Marcion gefordert hat, eindeutig zurückgewiesen worden. Die inzwischen entstandene Sammlung urchristlicher Schriften wurde nun aber zunehmend unter griechischen Denkvoraussetzungen interpretiert, was dann in der Alten Kirche zu einer hermeneutisch beachtenswerten, aber das urchristliche Zeugnis verfremdenden Interpretation führte, die bis in unsere Zeit nachgewirkt hat. Darüber hinaus setzte sich jetzt die sogenannte Substitutionstheorie durch, wonach die Christenheit das Judentum abgelöst habe. Damit war ein Verständnis des Christentums eingeleitet, das seine jüdischen Wurzeln weitgehend vergessen hatte.


4. Das Jude-Sein Jesu ist von fundamentaler Bedeutung für die christliche Verkündigung und Theologie. Dasselbe gilt für den judenchristlichen Charakter der ältesten christlichen Botschaft, wie sie im Neuen Testament festgehalten ist. Welche Relevanz hat das nun speziell für das Verstehen der neutestamentlichen Schriften?

4.1. Jesu Jude-Sein bedeutet die unaufhebbare Rückbindung an die Offenbarung Gottes in der Geschichte des Volkes Israel und damit zugleich die Klammer zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Jesus steht in der Tradition des früheren Gotteshandelns und verwirklicht seinerseits das verheißene künftige, jetzt schon beginnende Handeln Gottes. Um der anbrechenden eschatologischen Gottesherrschaft willen hat er Wege beschritten, die von den Repräsentanten des damaligen Judentums nicht anerkannt wurden. Diese standen aber durchaus im Lichte der Profetischen Heilsverheißung, wobei Jesus auch Elemente der apokalyptischen Profetie der Spätzeit aufgenommen hat. Seine Verkündigung ist dabei unverkennbar von der hebräischen Bibel bestimmt. Das betrifft nicht nur die Inhalte, es betrifft im besonderen auch die Denkweise. Anders als die griechische ist diese nicht primär statisch, sondern dynamisch; sie ist nicht an der typisch griechischen Frage nach dem Wesen orientiert, sondern fragt nach Beziehungen, Gemeinschaft und Funktionen. Entscheidend ist insofern seine Bindung an Gott und sein Auftrag, seine Sendung, aufgrund deren er im Namen Gottes handelt.

4.2. Die älteste christliche Theologie hat nicht nur das Jude-Sein Jesu ernst genommen, sondern sich ihrerseits auch bemüht, eine christliche Verkündigung und Theologie unter diesen jüdischen Prämissen zu konzipieren. Das hatte erhebliche Konsequenzen, was nur an einem Beispiel erläutert werden soll: Gottessohnschaft besagt hier nicht, dass Jesus seinem Wesen nach göttlicher Natur sei, sondern macht deutlich, dass er als Mensch in voller Gemeinschaft mit Gott und dessen Auftrag gehandelt hat und in diesem Sinn Gottes Offenbarer war. Nirgendwo ist das klarer ausgesprochen als in dem Wort Joh 10,30: “Ich und der Vater sind eins“, was die unlösbare Zusammengehörigkeit, die Einheit des Handelns und zugleich die Stellvertretung zum Ausdruck bringt. Das beinhaltet keinesfalls weniger als die späteren Wesensaussagen, steht nur unter anderen Denkvoraussetzungen. Vom 2.Jahrhundert an ist diese genuin jüdische bzw. judenchristliche Konzeption zunehmend überlagert worden und hat dann dazu geführt, dass das Gespräch mit dem Judentum kaum noch möglich war. Uns ist das griechische Denken inzwischen sehr fremd geworden, weswegen auch die griechisch interpretierte christliche Botschaft für viele schwer nachvollziehbar ist. Hier gilt es, an die Quellen nicht nur der biblischen Schriften, sondern speziell auch ihrer Denkweise zurückzukehren, die interessanterweise für moderne Menschen sehr viel zugänglicher und nachvollziehbarer ist. Diesen Ansatz unter den Denkvoraussetzungen der jüdischen Bibel neu aufzunehmen und zu entfalten, ist eine Aufgabe, die für unsere Zeit immer noch ansteht.

Der Autor ist emeritierter Professor für neutestamentliche Theologie der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität München

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