Edgar Josef Korherr SR. MAG.DR. HEDWIG (ANNA) WAHLE N.D.S. (1931–2001)

Am 23. August 2001 gab Sr. Mag. Dr. Hedwig Wahle ihr Leben zurück in die Hände ihres Schöpfers.
Sie war eine der Mitautorinnen der Arbeitsbücher Religion für die 5.- 8. Schulstufe1) die seit rund zwei Jahrzehnten an österreichischen Schulen einige Neubearbeitungen und eine Reihe von Auflagen erlebten und auch eine Übersetzung in das Slowenische2) erfahren haben. Diese Arbeitsbücher wurden auf der Grundlage des Wiener Arbeitsplanes für die Sekundarstufe I 3) entwickelt. Der Plan baute auf den entwicklungspsychischen Gegebenheiten der 10 bis 14-Jährigen auf und war der erste Lehrplan in Österreich, der den erst zwei Jahrzehnte später in Österreich offiziell gewordenen Terminus Sekundarstufe gebrauchte. Sr. Hedwig bearbeitete für alle Schuljahre die alttestamentlichen Kapitel, die deutlich ihre Handschrift tragen. Intensiv beteiligt war sie auch an den Kapiteln über das Judentum und das Neue Testament.
Ihre großen judaistischen Kenntnisse führten auch dazu, dass die Interdiözesanen Lehrbuchkonferenzen (I.L.K.) sie als Begutachterin – v.a. hinsichtlich der Gehalte, die den christlich-jüdischen Dialog betreffen - bei vielen Religionsbuchentwürfen4) heranzogen.
Im Rahmen des von Kardinal König gegründeten Koordinierungsausschusses für christlich–jüdische Zusammenarbeit5) hatte sie schon ab etwa 1965 zusammen mit namhaften Fachleuten mitgearbeitet am ersten Memorandum im deutschen Sprachraum über die Darstellung des Judentums in der christlichen Katechese.6)

Zum Lebenswerk Sr. Hedwigs zählt ihr Beitrag zur Gründung des Informationszentrums im Dienst christlich-jüdischer Verständigung (IDCIV), das sie selbst bis 1991 leitete. Sie gründete die Zeitschrift Dialog – Du Siach und war in intensiven wissenschaftlichen und ökumenischen Kontakt mit faktisch allen, die in Österreich um den christlich-jüdischen Dialog bemüht waren. Stellvertretend für viele seien hier nur ihre Lehrer Univ.-Prof. für Judaistik Dr. Kurt Schubert auf christlicher Seite und der unvergessliche Dkfm. Otto Herz (1912–1981)7) auf jüdischer Seite genannt. Zusammen mit dem ersteren, sowie mit Otto Mauer und Erika Weinzierl erarbeitete Sr. Hedwig 1970 die sog. Judenerklärung der Wiener Diözesansynode. Diese hat in ganz Österreich sehr stark die kirchliche Einstellung zum Judentum und auch den österreichischen Religionsunterricht beeinflusst.
In den folgenden Jahren war Sr. Wahle in Stille, aber unermüdlich, tätig durch Vorträge, durch einschlägige wissenschaftliche Werke8), durch Artikel und Mithilfe bei der Errichtung österreichischer Gremien und Arbeitskreise für christlich-jüdische Zusammenarbeit, sowie durch Vermittlung namhafter Referenten bei einschlägigen Tagungen – so etwa Pinchas Lapide, David Flusser, Ernst. L. Ehrlich.9) Zu letzterem befähigten sie zahllose Kontakte zu Wissenschaftlern, Journalisten, Schriftstellern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. In ihrem Auftreten vornehm – zurückhaltend konnte sie doch das, was ihr wichtig und unaufgebbar schien, mit großer Zähigkeit und sanftem Starkmut vertreten. Ihre Person trat dabei immer hinter ihrem Anliegen – dem christlich-jüdischen Dialog – zurück. Sie blieb persönlich eine sehr bescheiden lebende und wirkende Ordensfrau, der Brückenbau, Versöhnung und Verständigung wichtiger waren als Konfrontation und Streitgespräche.
Befähigt wurde sie dazu nicht zuletzt durch ihre vom Leid des 20. Jahrhunderts geprägte und durchdrungene Biographie. Anna Wahle wurde 1931 in Wien als Tochter des Oberlandesgerichtsrats Karl Wahle und dessen Gattin Hedwig, einer Versicherungsmathematikerin, geboren. Ihr Vater war ursprünglich Jude, konvertierte 1911 zur Altkatholischen Kirche und später (vor 1928) zur Römisch-katholischen Kirche. Anna (Sr. Hedwig) Wahle wurde schon nach ihrer Geburt r.k. getauft.10) Da sie nach den NS-Rassegesetzen aber als nicht-arisch galt, sandten ihre Eltern sie zusammen mit ihrem Bruder aus Furcht vor den nationalsozialistischen Verfolgungen nach England, wo sie von 1939 bis 1950 in Klöstern und Schulen der Schwestern von Notre Dame de Sion (Sionsschwestern) Zuflucht fand. Ihr Eltern überlebten den Krieg, in Österreich als sog. Unterseeboote ohne geregeltes Einkommen und ohne Lebensmittelkarten lebend. Nur einmal im Monat konnten Vater und Mutter sich in Wien in einer als eine Art Absteigquartier betriebenen Wohnung treffen.
Anna Wahle kehrte 1950 nach Wien zurück, studierte Mathematik und Physik und unterrichtete nach ihrer Lehramtsprüfung (1954) diese Fächer an Wiener Schulen. 1954 trat sie in die Kongregation der Schwestern von Notre Dame des Sion in Wien ein und nahm als Ordensnamen den Vornamen ihrer Mutter Hedwig an. Ordensziel dieser Gemeinschaft ist die Pflege des christlich-jüdischen Dialogs. Im Dienste dieses Dialogs ging Sr. Hedwig von 1962 – 1964 nach Paris, wo sie Hebräisch lernte und sich für Judaistik zu interessieren begann. Von 1964–1971 studierte sie an der Universität Wien dieses Fach und schloss es mit einer Dissertation über Probleme der rabbinischen Anthropologie und mit dem Doktorat ab. Maßgeblich beteiligt war sie an der Gründung des o.g. IDCIV, das 1967 über Anregung der römischen Ordensleitung der Sionsschwestern in Wien errichtet wurde und dessen Leitung Sr. Hedwig von der Gründung bis 1991 inne hatte. Daneben studierte sie an der Katholischen Theologischen Fakultät Wien Theologie und schloss dieses Studium mit der Diplomarbeit Die Bedeutung der Methode des alttestamentlichen Unterrichts für die Darstellung des Judentums ab. In den folgenden Jahren unterrichtete sie neben intensiven Tätigkeiten im Rahmen des IDCIV Religion an Wiener höheren Schulen.
Das intensive und äußerst fruchtbare Wirken Sr. Hedwigs in Österreich fand ein Ende, als 1992 das Wiener Kloster der Sionsschwestern in 1070, Burggasse 37 wegen Nachwuchsmangel geschlossen werden musste. Sr. Hedwig ging nach Brüssel und Rom, wo sie unermüdlich in Vorträgen, Kursen und durch schriftliche Arbeiten ihr Lebenswerk fortsetzte, und schließlich nach England, wo sie ihr letzter Leidensweg erwartete. Ein schweres Krebsleiden erforderte Operationen, Chemotherapien und langes Gefesselt-Sein an das Krankenlager. Noch im Frühjahr 2001 - vor einer der letzten Chemotherapien – schrieb sie voll Hoffnung, dass sie nun doch wieder einiges aufarbeiten könne. Über den Ernst ihres Gesundheitszustandes machte sie sich aber keine Illusionen. Es war ihr vergönnt, mit dem geistlichen und menschlichen Beistand ihres leiblichen Bruders den letzten Schritt in die Vollendung zu tun.
Nachrufe nennen sie mit Recht eine Pionierin des christlich-jüdischen Dialog11), bescheinigen ihr brilliante Intelligenz und großartigen Mut12) und registrieren, dass Sr. Wahle durch ihr Engagement im Dienste christlich–jüdischer Erneuerung eine neue Dimension christlicher Verkündigung nahe bringen konnte.
Der Autor ist Univ.-Prof. für Religionspädagogik in Graz und Senator h.c. der Universität Laibach, erschienen in Christlich-pädagogische Blätter, 2002
 
ANMERKUNGEN
1) Erste Auflagen: Autorenteam Interdiözesane Projektgruppe: Arbeitsbuch Religion für die 5. Schulstufe, Salzburg 1977; E.J.Korherr – M. Bliem: Arbeitsbuch Religion für die 6. Schulstufe, Klagenfurt 1980; Autorenteam Interdiözesane Projektgruppe: Arbeitsbuch Religion für die 7. Schulstufe, Linz 1981; E. J. Korherr – M. Bliem: Arbeitsbuch Religion für die 8. Schulstufe , Klagenfurt 1982. Die dazugehörigen Lehrerhandbücher, an denen Sr. Hedwig Wahle benfalls mitwirkte, erschienen 1971–1982 im R.P.I.Klagenfurt.
2) Veroucna knijga za 5.–8. letnik, Ljubljana 1982–1988; österreichisch – slowenische Übersetzung: Klagenfurt 1984–1988.
3) Projektgruppe Wien: Wiener Arbeitsplan für die Sekundarstufe I, in: CpB 87 (1974) 6, 291-310; 88 (1975) 1, 44–58; 2, 90-105; 3, 136–160; 4, 218–222; 6, 355–358. Dieser Wr. Arbeitsplan wurde zur Grundlage für den offiziellen Lehrplan für den kath. Religionsunterricht an der Unterstufe der AHS, Wien 1983, der bis 2000 in Geltung war.
4) Vgl. dazu E.J. Korherr: Das Judentum in Schulbüchern für den katholischen Religionsunterricht (Österreich), in: Th. Lange (Hg.) Judentum und jüdische Geschichte im Schulunterricht nach 1945, Wien – Köln – Weimar 1994 , 223–258, hier: 224/Anm.7.
5 Vgl. Kurt Schubert: Vor 45 Jahren. Gründung des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, in: Dialog - DuSiach Nr. 43, Juni 2001, S.19 – 21.
6) Veröffentlicht in CpB 81 (1968) 1, 33–45.
7) Evelyn Adunka: Die jüdische Beteiligung am jüdisch-christlichen Dialog in Österreich, in: Dialog - DuSiach Nr 45, Dez. 2001, 15–37, hier: Dkfm. Otto Herz, 20–29.
8) Vgl. H. Wahle: Das gemeinsame Erbe. Judentum und Christentum in heilsgeschichtlichem Zusammenhang Wien 1980; dsbe.: Das Evangelium – ein jüdisches Buch? Eine Einführung in die jüdischen Wurzeln des Neuen Testamnts (zus. mit Alexander Ronai, 1986); dies.: Juifs et Chrétiens en Dialogue, Brüssel 1997.
9) Vgl. E. Adunka, a.a.O. S. 33–37 : Sr. Hedwig Wahle
10 Briefliche Mitteilung (20. Juli 2002) von Rev. Francis Wahle, Diözesanpriester in London, dem Bruder von Sr. Hedwig an E. J. Korherr.
11) Nachruf Hewig Wahle, in: Ordensnachrichten, Wien 40 (2001) 5, 80f.
12) Nachruf von U. Trinks in: Dialog – DuSiach Nr. 45 (Dez. 2001), 8.

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