LIEBE ALSO DEN HERRN, DEINEN GOTT, MIT GANZEM HERZEN … LIEBE DEINEN NÄCHSTEN, WIE DICH SELBST

Einleitungstext zum italienischen Tag der Vertiefung und des Studiums des Dialogs zwischen Katholiken und Juden am 17. Jänner 2005

In dieser Zeit, die von Hass gezeichnet, mit Blut befleckt und von Spaltung gequält wird, finden Juden und Christen im Wort Gottes eine gemeinsame Quelle der Inspiration. Im Buch Deuteronomium steht: „Höre Israel! Der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ (Dtn 6,4-5) Und das Buch Leviticus fügt hinzu: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Lev 19,18)
Jesus antwortet dem Schriftgelehrten, der ihn über das „erste aller Gebote“ befragt, indem er diese beiden Stellen verbindet und noch einmal darauf hinweist: „Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“ (Mk 12, 29-31) Mose und Christus bekennen hier übereinstimmend, dass die tiefste Seele des Gesetzes die Liebe ist.
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Der Herr, unser Gott, zeigt sich als Gott der hesed, das heißt der liebenden Treue. Sie drückt sich in all seinen Taten, in der Natur und Geschichte aus und wird besungen im „großen Hallel“, dem Psalm 136. Dieser wird unterteilt von der Antiphon „Ewig ist seine hesed“ - seine barmherzige Liebe. Er ist ein Gott der „alles liebt, was ist, und nichts von alldem verabscheut, was er geschaffen hat … Du verschonst alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens.“ (Weish 11,24-26)
Sein Gesicht enthüllt sich uns in der heiligen Schrift in allen Formen der Liebe: von der Liebe als Braut, über die väterliche und mütterliche Liebe bis hin zu jener Liebe eines Freundes.


• Seine Existenz ist eine Erscheinung der Liebe. Er beugt sich zu Israel, seinem Volk, herab und sagt zu ihm: „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir solange meine hesed, meine treue Liebe bewahrt.“ (Jer 31,3)
• Er offenbart sich aber auch dem einzelnen Gläubigen, um ihm seine Güte anzubieten, seinen Schutz und sein Verzeihen: „Herr, du bist gütig und bereit zu verzeihen, für alle die zu dir rufen reich an Gnade (hesed).“ (Ps 86,5)
• Seine besondere Aufmerksamkeit wendet er den Letzten der Gesellschaft zu, ihnen ist er Verteidiger und liebender Hüter: „Ein Vater der Waisen, ein Anwalt der Witwen ist Gott.“ (Ps 68,6)
• Den strahlenden Mantel seiner Liebe breitet er über die ganze Menschheit aus: „Denn der Herr der Heere wird sie segnen und sagen: Gesegnet ist Ägypten, mein Volk, und Assur, das Werk meiner Hände, und Israel, mein Erbbesitz.“ (Jes 19,25)
• Und alle Generationen, obwohl sie auch seine Gerechtigkeit kennen, sind umhüllt von seiner großzügigen und unendlichen Liebe: „Er bewahrt Tausenden Huld, nimmt Schuld, Sünde und Frevel weg.“ (Ex 34,7)
Das Christentum nimmt diese Botschaft des Ersten Bundes auf und macht sie zu einer Art Banner, in dem es den außergewöhnlichen Satz „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,8-16) prägte, und ihn den „Gott der Liebe“ (2 Kor 13,11) nannte. Jesus, der „umherzog, Gutes tat und alle heilte, die in der Gewalt des Teufels waren“ (Apg 10,38) und der der „Geliebte“ schlechthin ist (Mk 1,11; 5,7) hat als vordringlichste Aufgabe, die Liebe des Vaters zu offenbaren: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab.“ (Joh 3,16). Der Heilige Ambrosius erklärte auf beeindruckende Weise, dass „caritas Dei Verbum est“, dass das Wort die Liebe Gottes ist. (Expositio in Psalmum CXVIII, 15,39)
Dieser göttlichen Liebe, die von der Bibel gefeiert wird und die auch die Gerechtigkeit als Zeichen wahrer Liebe nicht ignoriert, muss eine entsprechen menschliche Antwort gegeben werden. Sie wird kurz und bündig in jenem „ersten und wichtigsten Gebot“ formuliert: „Wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben …Wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet.“ (1 Joh 4,11-12)
Hier sind die beiden Dimensionen des wichtigsten Gebotes. Jesus hat beide aus der Tora entnommen. Hier ist der Auftrag, Gott nicht nur äußerlich zu verehren, sondern existenziell zu lieben, „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,5) die Wege des Herrn zu gehen, „die Pfade des Rechts“ (Spr 2,8), die Straßen der Freunde des Herrn. „Ich will dich rühmen, Herr, meine Stärke“ (Ps 18,2) ist somit für den Juden und für den Christen das gemeinsame Zeugnis ihrer Liebe zu Gott. In der mystischen Auslegung des Hohenlieds finden beide die idealen Gleichnisbilder, um ihre intime Beziehung zum Herrn auszudrücken.
Die Liebe muss sich weiters nach den Brüdern orientieren: „Dieses Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben.“ (1 Joh 4,21)
Die berühmten „Antithesen“ der Bergpredigt (Mt 5,21-48) wollen zwar die Besonderheit der christlichen Botschaft aufzeigen, ohne aber das Evangelium in Widerspruch zur Tora zu stellen. Vielmehr geht es ihnen darum, die radikale und tiefe Seele der Tora, die Kraft die sie beinhaltet, den Absolutheitsanspruch der Liebe, den sie einschließt, wiederzuentdecken. Es geht somit für Juden und Christen um das Einüben der brüderlichen Liebe in allen ihrem Ausformungen: der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit, dem Wohlwollen, der Großzügigkeit, der Freundschaft, der Solidarität und dem Respekt vor der Würde des Menschen.

Bedeutsam sind hier die Beispiele des Josef, der großzügig gegenüber seinen Brüdern, und des David, der großzügig gegenüber seinem rebellischen Sohn Abschalom (2 Sam 19,1.7) war. Bezeichnend ist die Aufmerksamkeit, die man selbst gegenüber dem Esel seines Feindes (Ex 23,4-5) und der Respekt, dem man auch gegenüber den Rechten von Fremden haben soll: „Den Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst.“ (Lev 19,34) Das Gesetz mahnt, Fremden und Armen gegenüber großzügig zu sein: „Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen. Ihr sollt keine Witwe oder Waise ausnützen. Wenn du sie ausnützt und sie zu mir schreit, werde ich auf ihren Klageschrei hören.“ (Ex 22,20-22)
Es ist die gleiche Großzügigkeit, die Jesus, auf intensive Weise, in seiner Darstellung des göttlichen Gerichts skizziert. Auch dieses wird sich um die Liebe zu den Hungernden, den Dürstenden, den Fremden, den Nackten, den Kranken und den Gefangenen drehen. (Mt 25,31-46)

In der jüdischen Tradition gibt es diesen wundervollen Ausspruch der Väter des Volkes Israel: „Simon der Gerechte war gewohnt zu sagen: Die Welt gründet auf drei Dingen: der Tora, dem Kult und den Taten der Barmherzigkeit.“ (Avot 1,2)

Am 8. Juli 2004 verabschiedete die XVIII. Vollversammlung des Internationalen Komitees für katholisch-jüdische Zusammenarbeit in Buenos Aires die gemeinsame Erklärung „Zedek und Zedaka“ – „Gerechtigkeit und Liebe“. In ihrer Folge bekräftigt wiederum auch die italienische Kirche am Tag des Nachdenkens über die Beziehung zwischen Judentum und Christentum, dass „Juden und Christen die gemeinsame Pflicht haben, in Liebe für die Gerechtigkeit zu kämpfen um so zum Frieden (schalom) für die ganze Menschheit beizutragen. In Treue zu unseren jeweiligen religiösen Traditionen sehen wir diesen gemeinsamen Auftrag gegenüber der Gerechtigkeit und Nächstenliebe als Mitarbeit des Menschen am göttlichen Plan, eine bessere Welt zu gestalten.“

Giuseppe Laras, Oberrabbiner von Mailand
Vincenzo Paglia, Bischof von Terni-Narni-Amelia und Vorsitzender der bischöflichen Kommission für Ökumene und Dialog der italienischen Bischofskonferenz.

Übersetzung: Gisela Porges

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