LANGE NACHT DER WURZELSUCHE
Wien. Die Suche begann bereits auf der Website, was bei der Langen Nacht der Kirchen zum Themenkreis „Israel, Jüdisches, Hebräisch“ in Wien angeboten wird. Das Ergebnis war für eine einzelne Person zu umfassend, um alles binnen weniger Stunden zu besichtigen. Aber im Rahmen des Gesamtangebots der rund 2600 Veranstaltungen österreichweit verhältnismäßig klein.
HEBRÄISCH IN 40 MINUTEN
Die Beziehung zwischen Menschen beginnt mit der Kommunikation und der dazugehörigen Sprache, um einander verstehen zu können. Dazu passend ergab sich der thematische Einstieg mit dem Besuch der Theologischen Kurse im Curhaus neben dem Stephansdom. Die einmalige Chance, in nur 40 Minuten Hebräisch lesen, schreiben und einfache Sätze sprechen zu lernen oder in 60 Minuten die Entstehung der Bibel inklusive der Volkwerdung Israels erzählt zu bekommen, lockte viele Interessierte. „Es gibt kein Christentum ohne die geschichtlichen Gotteserfahrungen des alten Israel“, projizierte der Beamer in unerwarteter Deutlichkeit an die Wand des Stefanisaals.
LE CHAJIM IN DER PAULUSKIRCHE
Die Begeisterung der Kursteilnehmenden noch vor Augen, mischten sich in das Bild bereits die neuen Eindrücke in der evangelischen Pauluskirche in Wien-Landstraße. Hier wurde der ganze Abend der christlich-jüdischen Begegnung unter dem Motto „Le Chajim – Auf das Leben!“ gewidmet. Die sensible Mischung aus jiddischen Liedern, Klezmer-Musik kombiniert mit Textlesungen des Journalisten und Religionswissenschaftlers Schalom Ben-Chorin und des Religionsphilosophen Martin Buber, machte den Abend zu einer runden, harmonischen Inszenierung. Diese war Caroline Koczan zu verdanken. Die engagierte Schauspielerin brachte als leidenschaftliche Initiatorin das Publikum dazu, durch Mitsingen, Klatschen, Tanzen, aber auch besinnliche Momente, mit der jüdischen Kultur freundlich Bekanntschaft zu schließen.
Ursprünglich wollte sie die problematische Stellung Luthers zu den Juden zum Thema des Abends machen, doch das wurde für den Reformationstag Ende Oktober aufgehoben. Dann ist die Idee mit der Inszenierung des „Vaterunser“ ins Spiel gekommen, das ursprünglich ein jüdisches Gebet ist. Die Aktivitäten wurden von dem leitenden Pfarrer-Ehepaar Anja und Thomas Fresia sowie mehreren Mitgliedern dieser Gemeinde tatkräftig unterstützt.
BESUCH IM BIBELZENTRUM
Die radikale Spurensuche führte nach den ersten Impulsen der Sprache und Geschichte des jüdischen Volkes, durch das emotionale Wechselbad von Licht, Stille, Gesang, Tanz und Kulinarik weiter in die intellektuelle Bücherwelt des Bibelzentrums beim Museumsquartier.
Der sprachliche Kreis von den Theologischen Kursen schloss sich beim Durchblättern hebräischer Bibeln mit deutschen oder englischen Übersetzungen. Wissen über biblische Figuren und Lebensgeschichten aus dem Alten Testament konnte vertieft werden, das zum Thema „Gott hat den Fremdling lieb“ aus biblischer Sicht dargestellt wurde. Eine Vitrine mit Judaika, den rituellen und sakralen Objekten sowie Literatur der jüdischen Religion ermöglichte Einblicke in traditionelles, jüdisches Leben.
Es zeigt sich, dass die positive Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität von Jesus – seinem Leben, seiner Kultur, seiner Sprache und hebräischer Denkweise – einen radikal neuen, menschlich-persönlichen Zugang zum Gott der Bibel eröffnen kann. Darüber hinaus wird dadurch der Nährboden für die Versöhnung der beiden Geschwister-Religionen Judentum und Christentum aufbereitet. Wieder ein Lichtblick in langer Nacht. Das Herz wird schwer, die Schritte auf der enthusiastischen Spurensuche langsamer. Wie ein Schrei die Frage: Wie lässt sich Christsein mit Antisemitismus und Judenhass verbinden? Die Lange Nacht der Kirchen gab keine Antwort darauf.
KIRCHE OHNE BILDER
Doch heuer gibt es eine christliche Kirche, die wie die jüdischen Synagogen das alttestamentarische Bilderverbot nach 2 Mose 20 einhält, und daher weder ein Bild noch ein Kreuz im Gottesdienstraum zulässt: Die reformierte Stadtkirche H.B.: Die Kirche, knapp vor der Schließung, ist menschenleer und bestätigte die visuelle Ähnlichkeit mit der Innenraumgestaltung von Synagogen. Gleich nebenan lud die Lutherische Stadtkirche nach Augsburger Bekenntnis (A.B.) mit den letzten Klängen des „Halleluja: Der Messias“ zum Zuhören ein. Ist der Messias hier zu finden oder der Christus?
Tatsächlich stammt der Titel „Messias“ aus dem Hebräischen von „Maschiach“ und ist die jüdische Wurzel der griechischen Übersetzung „Christos“, der später zu „Christus“ im Lateinischen wurde. Der Begriff heißt dasselbe: Der Gesalbte. „Jeschua HaMaschiach“ ist das Original des später übersetzten Namens „Jesus Christus“. Er bleibt Jude, selbst wenn ihm ein griechisch-römischer Name übergestülpt wurde.
Der innere Blick des Besuchers trifft sich mit dem äußeren und richtet sich auf das einzige, große Altarbild. Ein Gemälde des Gekreuzigten. Keine Heiligen, keine Engel, nur er. Das ist radikal (lateinisch „radix“ heißt Wurzel, Ursprung) im wahrsten Sinne des Wortes, doch leider nicht vollkommen, denn er ist auferstanden – das Kreuz ist leer. Die klassische Musik holte die Gedanken zurück und stimmte die Seele in vertrauter Weise ein. Der jüdische Geschmack verschwand langsam. Hier ist er Jesus Christus.
RUHE UND BESINNLICHKEIT
Es war Mitternacht geworden. Vielleicht könnte die jüdische Goldberg-Variation eines Stückes von Johann Sebastian Bach im Stephansdom den Geschmack wieder auffrischen? Die wunderschöne Lichtinstallation von Victoria Coeln schuf eine imposante Atmosphäre im Altarraum dieser gotischen Kirche. Die Musik lud zum stillen Genießen der Farbenspiele und zum Nachdenken ein. Der Abschluss der radikalen Spurensuche verlangte nach Ruhe zum Verarbeiten, nach Besinnlichkeit zum Vertiefen und nach Geborgenheit zum Wohlfühlen. Das alles bot St. Rupprecht, die älteste Kirche Wiens aus dem Jahre 740 nach Christus. In ihren geschichtsträchtigen Gewölben erklangen die Gesänge von Taizé im stimmungsvollen Kerzenschein.
Olga Angela Kafka Aus: Theologie aktuell 2012/ 13, Zeitschrift der Theologischen Kurse Wien